Mike Svoboda's Alphorn Special

»... ist unsere ohrenzwinkernde Hommage an die
komplexe Einfachheit in unserer einfach
komplizierten Welt. Das Abenteuer begann, als ich
Michael Svoboda im Sommer 1994 fragte, ob er nicht für
DACAPO einen kompletten Konzertabend auf dem Alphorn geben
könne: dieses handicap, als Weltklasse-Posaunist
auf ein nicht zuverlässig ansprechendes
»Primitiv-instrument« und die Naturtonreihe
beschränkt zu bleiben, hatte wohl noch nie ein Musiker
von Rang auf sich genommen. Sportsfreund Svoboda sagte
kurzerhand zu. Dank seiner virtuosen Kreativität kam es
im Bremer Übersee-Museum zu einem jener
unvergeßlichen, tiefen und gleichwohl kurzweiligen
Abende. Letzteres bezeugt gewiß die großartige
Publikumsbeteiligung bei einer Svoboda-Komposition
für Chor und Didgeridoo, das
Südsee-Alphorn aus einem von Termiten
durchbohrten Stück Eukalyptusholz. Das 305.
DACAPO-Konzert vom 11.9.1994 ist auf unserer CD »d'c
6« nur ausschnittsweise dokumentiert, denn das Medium
CD bot, besonders in Verbindung mit der seit den siebziger
Jahren ein wenig in Vergessenheit geratenen, binauralen
Kunstkopf-Technologie2, die Möglichkeit einer
dem Gegenstand
»Freiluft-Natur-Instrument«entgegenkommenden
Expedition der besonderen Art. Ausgangspunkt war die
erste der zehn »Merksmarks des Alphornisten«
aus dem Alphornbuechli (Zürich 1938) von A.
L. Gassmann:
»Das Alphorn gehört in die Berge hinein.
Prüfe also erst Deinen Standort auf guten Klang und
Fernwirkung (Echos).« Besonders der Anfang dieses
Ersten Alphorn-Gebots gab zu denken, denn daß der
eigene Standort im Leben stets überprüft werden
muß, ist ja völlig klar. Was nur meinte er mit
»...gehört in die Berge hinein?« Wir machten
die Probe aufs Exempel und fuhren mit Johnny, dem
Kunstkopfmikrophon zur Nebelhöhle bei Tübingen und
schleppten das Alphorn, die Ausrüstung und uns selbst
einige 400 Meter in den Berg hinein: Gassmann hatte
offenbar genau gewußt, wovon er sprach? Seit
Jahrhunderttausenden tropft bei konstant 7° Celsius das
kalkhaltige Wasser von den Felswänden und bildet die
bizarrsten Steinskulpturen. Dieser Standort übertraf
alle unsere Erwartungen an Fernwirkung und
Echos, und wir zeichneten den Alten
Muotathaler auf. Im Neustädter Hafen
von Bremen vor Schuppen #25 gab es zwar keine
Berge, jedoch das Echo der Kaimauern und
Lagerhallen, die Stahlklänge der
Klöckner-Röhrenverladung, und Fernwirkung en
masse: der ideale Ort für M. Christians
Komposition De Berner. Eine der wenigen
bergähnlichen Erhebungen in der norddeutschen Tiefebene
überhaupt ist die Nordwand des direkt an der Weser
gelegenen Weserstadions, Heimstatt Werder Bremens
(Deutscher Fußballmeister 1993), dem wir als
Anfeuerung für 1995 das Werk Dem Tüchtigen
Freie Bahn! von Alphornvater Gassmann widmeten. Eine
weitere, entfernt bergähnliche Erhöhung bildet der
kahle Stahl-Obelisk auf der Wiese der gleichnamigen
Ganderkeseer GmbH des Komponisten Hans-Joachim Hespos. In
Ermangelung echter Kühe (die halten nämlich den
Lärm von zwei an die Wiese angrenzenden
Bundesstraßen und der A 28 nicht aus) zeichneten wir
im Rahmen eines öffentlichen Wiesen-Symposions Hespos'
Werk »Q« auf. Weit glücklicher sind
die leibhaftigen Kühe auf dem Biohof Waldhäuser
Ost bei Tübingen, denen wir frühmorgens zur
Melkzeit den bekannten Viotti'schen Kuhreihe als
Ständchen darboten. Anschlies-send
überprüften wir das 1. Gassmann'sche Gebot ex
negativo und gingen in den Schalltoten Raum des
Fraunhofer-Instituts für Bauphysik in die
Universität Stuttgart. Hier zeichneten wir einen
Ausschnitt aus dem Werk Weltenenden der
Komponistin Adriana Hölszky auf. Da es am
Aufnahmeort so gut wie keine Echos und
Fernwirkungen gab, ließen sich die Mund-,
Kratz- und Blasgeräusche genauestens orten. Man
hört unter dem Kopfhörer exakt den Abstand von ca.
3,5 m zwischen Mundstück (oben links) und
Schalltrichter des Alphornes (unten rechts). Endlich
erklommen wir einen echten Berg, nämlich den seit
dreißig Jahren auf über 60m aufgeschütteten
Müllberg der Reutlinger Deponie und zeichneten
Gassmanns Anstieg auf. Schließlich trafen wir
uns mit 18 weiteren Alphornbläsern im Bühler
Tal und spielten Svobodas Alpen Air
ein. Die deutlich vernehmbaren Fluginsekten, Hunde,
Rollstuhlfahrer, Jogger, Reiter und Spaziergänger
genossen die gesunde Luft offenbar genau so wie der
ebenfalls anwesende Schreiner und Alphornbauer Reinhold
Pregizer, der schon über einhundertfünfzig
Alphörner fabriziert hat. Nächtens
schließlich zelebrierten Michael Svoboda und Heinz
Zimmermann, der König von Dettenhausen, in dessen
wunderschöner Gärtnerei zum Geläut der
Dorfkirche zwischen zwei plätschernden Bächlein
M.Christians beliebtes Stück Zwei Freunde.
»Das Alphorn gehört in die Berge hinein - kann
schon sein«, ließe sich als Zwischenergebnis der
noch unvollständigen Überprüfung des
fraglichen Ersten Gassmann'schen Gebotes festhalten, - aber
schön klingt's auch anderswo. Das Forschungsprojekt
Alphorn je-denfalls muß fortgesetzt werden. Aus dem
305. DACAPO-Konzert stammen die auf der CD wiedergegebenen
Live-Aufnahmen von eigenen Svoboda-Kompositionen für
Alphorn und weitere Instrumente, die auf dem Alphornprinzip,
der Naturtonreihe, basieren. Neben dem bereits genannten
Didgeridoo treten auch der gemeine
Gartenschlauch, das Südsee-Muschelhorn,
Kuhglocken und ein Glas Wasser musikalisch zwingend
in Aktion...«3
Svobodas sich seit der Premiere im Übersee-Museum in
kontinuierlichem Aufbau befindliches Alphorn-Repertoire
umfaßt traditionelle Volksweisen, jazzmäßig
groovende Digeridoo-Drones, weitere zeitgenössische
Kompositionen »ernster« Komponisten sowie
interaktive Musikstücke, in die der
entertainment-begabte Amerikaner aus der
schwäbischen Alb das Publikum aktiv einbezieht. Der
Schweizer Schauspieler Peter Lüchinger von der Bremer
Shakespeare Company, ebenfalls bei der Premiere dabei, sorgt
mit schwyzerdytschen Platt-Rezitationen für die
nötige sprachliche Authentizität. »Ein
köstlich unterhaltsamer und informativer Abend, der
nach zwei Stunden und vier Zugaben mit
füßetrommelndem Applaus sein Ende fand...«,
freute sich der Kritiker des Ulmer Konzertes 1995.

1 Michael Svoboda (*1960 auf der Pazifikinsel Guam), wuchs
in Chicago auf und reüssierte dort zunächst als
Jazz-Posaunist (1978 Louis Armstrong Award). Nach dem
Kompositions- und Dirigierstudiumkam er 1981 nach England
und Deutschland und beendete 1986 in Stuttgart ein
zusätzliches Meisterstudium im Fach Posaune. Neben
vielseitiger Konzerttätigkeit mit Festivalauftritten,
Fernseh-, Rundfunk- und CD-Produktionen arbeitet Svoboda im
direkten Austausch mit Komponisten, darunter z. B.
Lachenmann und Zappa. Svobodas Repertoire umfaßt
Kompositionen vom frühen Barock auf
Originalinstrumenten bis zur zeitgenössischen Musik
für Posaune, Euphonium und - Alphorn.
2 Mit Kunstkopf aufgezeichnete Aufnahmen vermitteln beim
Abhören über Kopfhörer einen verblüffend
realistischen Raumeindruck. Die (virtuelle) Ortung der
Klangquellen ist sehr genau möglich.
3 Ingo Ahmels im Booklet der DACAPO-CD »d'c 6 - The
Complete Alphorn, Part One - Mike Svoboda's Alphorn
Special«, © d'c records, Bremen 1994
(geänderte Textfassung). Das
»Alphorn-Special« wurde inzwischen mehrfach mit
großem Erfolg in seiner weitertentwickelten
Konzertfassung aufgeführt und geht 1997 auf
USA-Tournee.
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