Johann Sebastian Bach (1685-1750)

Die Kunst der Fuge (ca. 1740-1750)

Die folgenden Texte geben einige Hinweise

auf die Entstehungs- und Editionsgeschichte des Werkes sowie zu Aspekten der kompositorischen Bedeutung

Zur Entstehung der sogenannten

Kunst der Fuge

1735: Ab Mitte des Jahrzehnts beginnt Bachs Beschäftigung mit dem stile antico mit Bezug auf Mizler, die Lehren von Fux und die Beispiele von Palestrina und seinen Nachfolgern.

1736 Frühestmögliches Datum für Konzeption und Komposition der Kunst der Fuge, vielleicht auch ein bis zwei Jahre später.

1740-1742 fertigt Bach die Reinschrift der Nrn. I-VIII der Erstfassung der Kunst der Fuge.

1742-1746 setzt Bach die Reinschrift der Erstfassung der Kunst der Fuge mit den Nrn. IX-XV fort.

1747 Bach tritt der Mizlerschen Gesellschaft als 14. Mitglied bei und überreicht als erste Jahresarbeit die gerade erschienenen Canonischen Veraenderungen für Orgel, bestimmt das Musicalische Opfer als Arbeit für 1748. Beginn der Stichvorbereitungen zur Kunst der Fuge mit dem Umkehrungskanon (Nr. 14).

1748- Oktober 1749: Arbeit Bachs an der Quadrupel- (»Schluß«-) Fuge, parallel zur Stichvorbereitung der Kunst der Fuge.

1749 Ende 1748- Jahresanfang: Neukonzeption bei laufender Stichvorbereitung mit dem Ergebnis einer Zweitfassung der Kunst der Fuge als Folge von Umstellungen und Nachkompositionen, u. a. zwei Kanons und Fuge IV. Einer der Anlässe vielleicht die Antike-Rezeption des Berliner und Dresdner Kreises um Friedrich II. und Winckelmann. Bis etwa Mai schreibt Bach einen großen Teil der Stichvorlagen (Nrn. 1, 3, 4, 11, 12/1, 13/1). Sie werden bis zum Herbst von JohannHeinrich Schübler in Zella (Thüringen) gestochen, der auch die Blumenornamente herstellt. Bis Ende des Jahres werden von Kopisten die Stichvorlagen der restlichen fertigen Stücke geschrieben.

21. März: Bach vollendet das 64. Lebensjahr und müßte nach den Statuten der Mizlerschen »Societät« im Verlauf des folgenden Jahres eine letzte Arbeit abliefern: »Die Kunst der Fuge«?

Im Herbst bricht Bach offenbar die Arbeiten an der Kunst der Fuge ab und bemüht sich um diese Zeit, mit der Komposition des Symbolum Nicenum die H-Moll-Messe zu beenden.

1750 Während der ersten Jahreshälfte findet die zweite Stichphase statt (Nrn. 2, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 12/2, 13/2). 21. März: Bach wird fünfundschzig Jahre alt und ist damit im Hinblick auf die Mizlersche »Societät« »von Arbeiten frey«. Seine letzte kompositorische Tätigkeit ist die Umarbeitung der Sonaten für Violine und obligates Klavier. Monatswechsel März/April: zwei Staroperationen. 28. Juli: Tod Bachs nach Schlaganfall. Todesursache ist wahrscheinlich Diabetes. Vermutlich direkt anschließend oder im Herbst nehmen Carl Philipp Emanuel Bach und evtl. Johann Friedrich Agricola die Anordnung des Schlußteiles der Kunst der Fuge mittels vorgefundener Stücke vor, u. a. der Quadrupelfuge und des Chorals, ergänzen also den Torso. Ersterer formuliert vermutlich den Werktitel, letzterer stellt wahrscheinlich die Stichvorlagen her. Im Herbst erhält Stecher Schübler aus dem Bach-Nachlaß Honorar, vermutlich noch für die zuletzt geleisteten Arbeiten.

1751 Vermutlich im Frühjahr erfolgt die dritte Stichphase der Rest- bzw. Abschlußstücke, wobei wohl Schübler Nr. Xa einarbeitet.

1. Juni: Subskriptionsaufruf, formuliert wohl von Carl Philipp Emanuel Bach. Wahrscheinlich im Herbst erscheint der Erstdruck der Kunst der Fuge mit einer vorangestellten »Nachricht« Carl Philipp Emanuel Bachs, worin erstmals die Legende vom Tod über der Arbeit und vom Diktat des Chorals auftaucht. Anschließend schreibt der Bach-Sohn ein Stichfehlerverzeichnis für den Zweitdruck.

1752 Zu Ostern erscheint der Zweitdruck mit einem »Vorbericht« von Friedrich Wilhelm Marpurg, wiederum mit der Legende. Die Gesamtauflage der beiden Drucke könnte die Zahl von einhundert Exemplaren erreicht haben. Mattheson lobt die »so genannte Kunst der Fuge«.

Zum Werktitel Kunst der Fuge

Ob die Formulierung des Werktitels von Bach stammt, ist unklar oder gar »zu bezweifeln«, weil der von Altnickol geschriebene Titel »die Kunst der Fuga« den für Johann Sebastian Bach ganz untypischen Autorenvermerk »di Sign°. Joh. Seb. Bach« und den Zusatz »(in eigenhändiger Partitur)« trägt, die eher auf eine recht späte Eintragung schließen lassen. Der zweite Teil des Titels (»der Fuge«) entspricht durchaus dem zeitüblichen Sprachgebrauch für alles strenger Imitierte - »fuga ligata« für Kanon -, könnte zu Bachs Nomenklatur passen und müßte der Authentizität nicht entgegenstehen. Der erste Teil (»Die Kunst«) stellt für unseren Zusammenhang die differentia specifica dar, also jenes Element des zu untersuchenden Gegenstandes, dessen Reflexion die Frage über das Allgemeine hinaus auf den Einzelfall und seine Aufklärung führt.

Johann Mattheson, der doch von allem hörte, hat 1752 bei seiner lobenden Besprechung des Werkes nicht ohne Grund die Formulierung gewählt, es handele sich um »Joh. Sebast. Bachs so genannte [!] Kunst der Fuge«. Entweder jener, welcher ihm ein Rezensionsexemplar zusandte - C. Ph. E. Bach,

Agricola oder Marpurg -, oder jemand aus der »Societät« wird ihm etwas über die Umstände der Namensgebung mitgeteilt haben. Und so will er sagen: Dieses Werk ist so genannt worden, aber nicht vom Autor selbst.

Entscheidend ist, ob Bach sich auf einen Kurztitel ohne Erläuterungen beschränkt hätte, die er sonst zusetzte. Rolf Dammann hält deshalb den Titel für »nicht authentisch« [wie er in seinem Begleittext einer harmonia-mundi-Schallplatte ausführt]: »Vielleicht hätte die Kernzeile der Titelfassung »Ars Canonica« geheißen ... mit ausführlicher Beschreibung der in diesem Fall höchst konzentrierten Werkstruktur, mit dem didaktischen Hinweis auf den Modellcharakter der ausgearbeiteten Kontrapunkte. Der Titel würde etwa so gefaßt sein, wie Marpurg im Vorbericht zur zweiten Auflage (1752) formuliert: »... worinnen ein Hauptsatz in allen Arten Fugen und Kontrapunkten stets im selben tono des D la re [d'] mit der kleinen Terz, aber in mancherlei Veränderungen, zum Schluß mit vier Subjekten, darunter des Auctoris Namen durchgeführt wird, auf allerley clavierten Instrumenten zu gebrauchen ...« (Dammanns treffende Phantasie, nicht so bei Marpurg!) Ich stimme Dammann völlig zu, würde aber als Haupttitel vorschlagen: »Fünfter Theil der Clavir-Übung«.

Antiken-Rezeption und Legendenbildung um die Kunst der Fuge

Unrichtig ist es, über die Quadrupelfuge zu sagen, es sei »die romantische Aura des Unvollendeten, die ihr so lange angehaftet habe«, wie Gregory Butler 1983 in der Zeitschrift Musical Quarterly ausführte. Vielmehr war es eine Aura der Antike, vermittelt durch die seit dem 16. Jahrhundert entstandene, durch die Bewunderung Michelangelos, Berninis und vieler anderer für den antiken Torso von Belvedere gewachsene und nun im 18. Jh. mächtig anschwellende Kultur der Torso-Figur. Sie galt zum einen als »Bekenntnis zur Welt der Antike« und »Exempel der Gattung Bildhauerei«, wobei oft »echte Fälschungen«, also vielerlei künstlich verstümmelte Hermen und Karyatiden »als originale, antike Werke Gewinn bringen sollten«, trat aber auch darüber hinaus auf mit der »symbolischen Bedeutung der Vergänglichkeit von Kunst und Menschenwerk« unter dem »formalen Vorbild echter antiker Bruchstücke«. Beispielhaft ist eine Hamburger Pax-Figur aus dem frühen 18. Jh. ohne Arme, deren folgende Beurteilung klingt, als benenne sie die Absichten Carl Philipp Emanuel Bachs bei der Herausgabe:

»Man fragt sich, wie eine Ergänzung überhaupt aussehen könnte und kommt zu keiner Lösung, die im geschlossenen Kontext der Gestaltform befriedigen und thematisch sinnvoll erscheinen könnte. Kurz, es muß sich um eine bewußte, beabsichtigte Torsobildung handeln, die thematisch begründet ist«, heißt es bei J. A. Schmoll 1959.

Erübrigte sich hierbei also die Frage der Ergänzung, so stellte sie sich um so mehr bei den an deutschen Höfen seit Beginn des Jahrhunderts eingerichteten Sammlungen antiker Skulpturen. Konnte der Bach-Sohn eine umfangreiche, seit den 1720er Jahren von August dem Starken in Dresden zusammengetragene Sammlung in Augenschein nehmen, so wurde er seit Mitte der vierziger Jahre an seiner Wirkungsstätte in Potsdam täglich mit den Ergebnissen der exzessiven und sich auf alle Gebiete erstreckenden Antikenbegeisterung seines königlichen Dienstherrn konfrontiert. 1742 hatte dieser die Sammlung des Kardinals de Polignac aufgekauft und in den Gemächern und Gärten des 1748 fertiggestellten Schlosses Sanssouci aufstellen lassen. Nun konnte der Hofcembalist den Diskussionen lauschen, die um die Frage der Ergänzung der aufgestellten Torsi kreisten: ob es sich um den mit Bruchstücken eines Pan ergänzten Marsyas handelte, das mit zwei neuen Köpfen ausgestattete Pasticcio der sogenannten Achill-Lykomedes-Gruppe oder das aus Einzelfiguren und -bruchstücken zusammengestellte »Bacchische Relief«.

Offenbar herrschte Uneinigkeit darüber, ob die Torsi in ihrem Zustand zu belassen seien, also unverfälscht und im Sinne des non finito der ergänzenden Phantasie offen, oder nicht. Sich in diesem Metier auf dem Gebiete der Musik zu betätigen, konnte Carl Philipp Emanuel Bach außer von alten und neuen Torsi - wie der Hamburger Pax-Figur - auch von der in Schloßgärten seit der Renaissance verbreiteten Ruinenarchitektur antikisierender Prägung angeregt worden sein. Täglich konnte er auf den sogenannten Ruinenberg im Park von Sanssouci blicken, der um 1750 geplant und angelegt wurde, offenbar als Pendant der Kunstruine in der Eremitage der königlichen Schwester Wilhelmine in Bayreuth. Das in den Potsdamer Ruinen verborgene Wasserreservoir zur Versorgung des Parkes funktionierte allerdings nie.

Der Sohn fügte durch die Entscheidung, die Quadrupelfuge mit sichtbarem und herausgestelltem Abbruch zu veröffentlichen, das Bild seines Vaters dem herrschenden und dem sächsisch-preußischen Kennerkreis vertrauten Verständnis vom Torso als Abbild der Antikenverehrung und der irdischen Vergänglichkeit ein, erhob damit unausgesprochen das Werk des Vaters zum klassischen

Exempel und zum musikalischen Seitenstück antiker Kunstgröße, hat also jenen inhaltlichen Bedeutungszusammenhang vorausgenommen, den Robert Schumann später mit dem Satztitel Ruinen für die in Verehrung Beethovens geschriebene Klavierfantasie op. 17 deutlich machen wollte.

Hätte diese Maßnahme bereits für das Erkennen der historisierenden Absicht genügt, war es aber Carl Philipp Emanuel Bach zusätzlich noch darum zu tun, sie durch Anfügen des Chorals zu ergänzen und beide Teile dadurch zu einem neuartigen Ensemble zu vereinen. Mit anderen Worten: Er ergänzte den Torso und schloß sich dadurch der Kunstpartei an, die die abgeschlagenen Köpfe und Arme der antiken Statuen durch Nachbildungen oder durch Teile anderer Statuen ersetzen wollte, wie im Falle des Potsdamer Pan-Marsyas. Der Choral ist somit eine Restaurierungsarbeit des Sohnes, der neue Kopf auf dem klassischen Torso. Mit seinem Vorgehen führte der Sohn die Musik auf die Höhe der zeitgenössischen Kunst- und Antiken-Diskussion.

Johann Joachim Winckelmann, der führende Fachmann seiner Zeit auf dem Gebiet antiker Kunst, war vermutlich mit Carl Philipp Emanuel Bach bekannt und kannte die Dresdner und auch die Potsdamer Torsi und Pasticci genau. Er richtete seit Beginn seiner Antikenbegeisterung das Augenmerk auf das Problem der Torso-Restaurierung und ließ nur solche Ergänzungen gelten und auch von seinem Freund Cavaceppi herstellen, die dem Stil und der Absicht des Originals entsprachen, auch wenn sie neueren Datums waren. Bachs Unternehmung hätte oder hat ihm zugesagt, und dieser scheint sich im Umgang mit dem Torso des Vaters genau an Winckelmanns Standpunkt gehalten zu haben:

»Um die Ergänzungen anzufügen, dürften keine Glättungen und Begradigungen der alten Bruchstellen vorgenommen werden, sondern die restaurierte Statue müsse so aussehen, als seien die ergänzten Teile unglücklicherweise abgebrochene und wieder angefügte antike Gliedmaßen. Die Oberfläche dürfe nicht gereinigt und schon gar nicht mit dem Meißel übergangen werden: Wer dies tue, behandle sträflicherweise die kostbaren antiken Torsen wie eben aus dem Steinbruch gewonnene Marmorblöcke.«

Fugenabbruch - gleichsam die Abbruchstelle am Hals des Torso - und Choral - gleichsam der angesetzte Kopf - werden von Carl Philipp Emanuel Bach, aufs genaueste dieser Anweisung folgend, dargeboten. Cavaceppi macht noch deutlicher, was bei Torso-Ergänzungen zur Erhaltung des Eindruckes des non finito, der auch auf diesem Gebiet künstlerischer Praxis diskutiert wurde, notwendig ist:

»Wenn ich sehe, daß zu einer bruchstückhaften antiken Statue diese und jene Teile mit höchstem Können, zum Beispiel von Michelangelo, zugesetzt sind, aber eher um die tatsächliche oder eingebildete Unvollkommenheit des antiken Bildhauers zu korrigieren, anstatt die Statue nachzuahmen, so werde ich, wenn es angezeigt ist, die zugesetzten Teile für sich selbst loben, nicht aber die Restaurierung.« (nach Inga Gesche 1981)

Carl Philipp Emanuel setzte sich einer solchen Kritik nicht aus: Er vermied es, selbst etwas hinzuzukomponieren.

Durch die veröffentlichten biographischen Erklärungen dieser musikalischen Torso-Ergänzung läßt Carl Philipp Emanuel Bach vor den Zeitgenossen und uns etwas entstehen, das man sich vorstellen kann wie den Torso von Belvedere, also einen kraftvollen Männerleib ohne Extremitäten, dem ein Kopf aus älterer Zeit aufgesetzt ist, etwa in Art einer Medusa oder Niobe klagend aufblickend. Mit seiner als Kunst »dargestellten Biographie« des Vaters trat der Sohn nicht etwa als Lügner auf, sondern schloß an eine weitere heroisierende Tradition an, nämlich jene der seit der Renaissance weitverbreiteten und seit dem 18. Jahrhundert auch für Musiker offenen Kultur der erhöhenden Künstler-Anekdote, vor allem was deren Topos von Arbeitswut (nulla dies sine linea) trotz Krankheit betrifft. Offenbar ließ er sich zusätzlich von der Legende beeinflussen, nach der der Heilige Geist dem Papst Gregor die nach ihm benannten Choräle eingegeben, also quasi diktiert habe.

Durch die Veröffentlichung der Kunst der Fuge in Gestalt eines ergänzten Torso und deren ideologische Einkleidung in schriftlicher Biographik und Preisung errichtete Carl Philipp Emanuel Bach, parallel zu seinen eigenen Klavierwerken, zu einem für das Gebiet der Musik sehr frühen Zeitpunkt »Grundpfeiler der Genieästhetik«. Er rückte seinen Vater an jenen Ort, von wo er am Ende des

18. Jahrhunderts durch Schubert, Beethoven, Forkel und andere abgeholt und in die ewige Ruhmeshalle des Genies gehoben werden konnte.

Zur Frage der zyklischen Anordnung der Kunst der Fuge

Die Theorie Gregory Butlers, welche von der Rekonstruktion ursprünglicher, dann getilgter Seiten- und Plattenzahlen des Erstdruckes ausgeht, schließt die These ein, die sechs Seiten vor dem Oktavkanon, die im Erstdruck durch falsche Stücke ausgefüllt sind, seien für die Quadrupelfuge aufgespart, jedoch nicht entsprechend vor Bachs Tod beliefert worden und gäben Aufschluß über die noch zu erwartende und von Bach vorhergesehene Länge des fehlenden Teiles dieser Fuge (Teil III: 52 Takte, Teil IV: 34 Takte, also eine Gesamtzahl von vielleicht 279 Takten auf sechs Partiturseiten). Daß diese Fuge das Schlußstück des Zyklus gewesen sein soll, »ist, wie ich glaube, nichts als ein weiteres jener romantischen Mißverständnisse, die an dem Werk haften« (Butler). Schließlich sei in beiden Vorworten und im Nekrolog nur die Rede von letzter bzw. vorletzter »Fuge«, nie von Schlußstück.

Diese Hypothese ist die einzige, die über Spekulationen und Textinterpretationen hinaus eine reale, philologisch nachvollziehbare Basis hat. Werner Breig hat sie, nachdem er zunächst der üblichen erstgenannten Meinung zugeneigt hatte, sofort übernommen. Sie würde allerdings einen schönen Teil der aus der Steigerungsästhetik seit der Mozart- und Beethoven-Zeit auf Bach zurückprojizierten Formvorstellungen zerstören:

Der die vier Anfangsfugen beantwortenden großen Quadrupelfuge wären dann die vier zweistimmigen Kanons angehängt, nach neuerer Entwicklungsästhetik ein Rückfall, nicht jedoch unter dem Blickwinkel der Steigerung kontrapunktischer Kunstfertigkeit, die von den Fugen zu den Kanons zunimmt und sich innerhalb dieser bis hin zum Augmentationskanon weiter steigert. Im Nekrolog hieß es doch: »alle Arten der Contrapuncte und Canonen, über einen eintzigen Hauptsatz«. Wenn schon immer wieder Anstrengungen unternommen worden sind, die wenigen Texte der Herausgeber zur Kunst der Fuge zu interpretieren, warum dann nicht auch diesen, der sich auf die Abfolge der Stücke nach Bachs Planung beziehen kann, wenn diese auch nicht mit dem vorgefundenen Material im Druck ausgeführt worden ist. Aber: »Contrapuncte und Canonen« folgen ja tatsächlich mit diesen Titeln aufeinander im Erstdruck (1-13 bzw. »falsche« 14=10a, dann 14-17), und neben der Klavierbearbeitung der dreistimmigen Spiegelfuge sind dann nur noch die »Fuga a 3 Soggetti« und der Choral angehängt, die Carl Philipp Emanuel an dieser Stelle brauchte, um aus den schwer verständlichen und integrierbaren Resten seine Torso-Ergänzung herzustellen.

Die Kunst der Fuge würde so einen Teil ihres ideologischen Scheins einbüßen. Wenn das Werk wirklich auch für die »Societät« als letzte Jahresgabe bestimmt war, so kannten die Mitglieder einen derartigen Aufbau eher lockerer Art (ohne großes abschließendes Rahmenstück und mit Konzentrierung auf die Kanonkunst) bereits aus dem für sie und den Preußenkönig geschriebenen Musicalischen Opfer. Und das Aufnahmestück, die Canonischen Veraenderungen, hatte nur derartige Kontrapunkt- bzw. »Fugen«-Art enthalten, wie sie auch in Matthesons Vollkommenen Capellmeister (1739), möglicherweise einem der Ausgangs- und Begleitwerke für Bachs Werkplan, im 3. Teil nach den einfachen Fugen (Kapitel 20) behandelt wird. Kapitel 21: »Von Circkel-Gesängen oder Kreis-Fugen, sonst Canones genannt«.

Kunst der Fuge und Fragment

Die beiden sich ergänzenden, oft sich auch widersprechenden Seiten der Kunst der Fuge - die ordnende und die gefühlvoll-wuchernde - sind offensichtlich nicht auf eine einzige Formel zu bringen oder in ein Erklärungsmuster zu pressen, da sie Ausdruck eines Grundwiderspruchs der Kunst der Fuge und ihrer gesamten Entstehungsgeschichte sind. Es handelt sich nicht um ein individuelles Kompositionsproblem Bachs, sondern um eines, in dem sich der Übergang und Widerspruch zwischen traditionell-ordnendem und neuzeitlich-entwickelndem Denken manifestiert und in diesem einen Werk sich zuspitzt. Es ist ein Problem, das nicht etwa durch Bachs Tod der Lösung entzogen wurde, sondern welches so schwerwiegend war, daß Bach trotz mehr als zehnjähriger Arbeit und mehrfachen Zwischenlösungen nicht in der Lage war, damit fertig zu werden. Er scheiterte daran, und womöglich erlöste ihn der Tod davon, noch eine dritte Fassung zu versuchen.

Die »Variationen im Großen« (Forkel) im Gedächtnis, möchte ich folgende Interpretation des end- und schließlich ergebnislosen Bemühens Bachs um die Lösung eines unlösbaren Problems vorschlagen: Er hatte einen Gesamtzusammenhang »entwickelnder Variation« über ein einziges, eigens dazu ersonnenes Thema geplant, der eine selbständige Dynamik entwickeln sollte. Das Thema sollte einer instrumentalen Form großen Ausmaßes zur Grundlage dienen, die ideell einen Gesamtsatz ausmachte. Hierfür gab es zu seiner Zeit keine Vorbilder und keine Gattungsmöglichkeiten - Konzert-, Variations- und Suitensatz waren zu kurzatmig und daher ungeeignet -, so daß er als beste Möglichkeit für die Technik fortschreitender thematischer Arbeit die Fuge wählte und damit versuchte, eine inhaltlich nicht unterbrochene Großform herzustellen, durch die die Metamorphose der Themen-, Kontrapunkt- und Affektgestalten trotz der Satztrennung sozusagen hindurchging. Die Gattungswelt um 1750 machte die Entwicklung einer dieser Idee angemessenen Form unmöglich - erst die Sinfonik fünfzig Jahre später erlaubte solche Dimensionen der Instrumentalmusik.

Der Übergang zur Zweitfassung zeigt Bachs Bemühen, das Problem neu anzugehen, neue Anschlüsse, neue Paarfolgen und damit eine neuartige Legitimierung für die Riesendimension zu schaffen, dies aber nun auch mit einer teleologischen Ausrichtung auf eine Schlußbildung hin, fast im Sinne späterer Finalkonzeptionen. Bach versuchte, die große Zeitmenge statt in statische nun in Entwicklungsform zu bringen und dadurch in Spannung zu halten, doch verstellten ihm die Gattungsgrenzen immer wieder den Blick, erschwerte ihm das Weiterwuchern von Bezügen und Verbindungen die planende Kontrolle. (Im Lichte dieser Hypothese wird die verbreitete Meinung, eine Gesamtaufführung des Zyklus sei ein Bachs Intentionen und den Bedingungen seiner Zeit widersprechender Sündenfall heutiger Konzertpraxis, brüchig. Falls Bach die angedeutete Absicht verfolgte, müßte sie auch die Möglichkeit einer klanglichen Realisation als Ganzes eingeschlossen haben.)

Den zyklisch-ordnenden Aspekt hatte Bach im Übergang zur Zweitfassung durch die paarweise Fugenprogression und das Ausufern der Gefühlspole in Gefahr gebracht, zumindest differenziert, hätte aber durch eine große Abschlußbildung beiden Aspekten genügen und sie auffangen können. Jedoch hatte er im Durchbruch zur Progression und damit auch zur Gefühlsentwicklung noch einen dritten, bereits angebahnten Aspekt aus den Symmetrie-Bindungen befreit, der nun, je weiter das Werk fortschritt, desto bedrohlicher wurde: die horizontale Spiegelung, also jenen Zug von recto- und inverso-Formen des Themas und ganzer Sätze, welcher bis hin zu den Spiegelfugen und den Kanons immer stärker an Bedeutung gewonnen hatte und nun ebenfalls einer Auflösung innerhalb einer zu erwartenden Schlußbildung harrte. Falls Bach wirklich, wie der Nekrolog behauptet, noch eine weitere Fuge mit Umkehrung aller Stimmen plante, hätte er zwar dieses Problem gelöst, jedoch hätte diese Fuge wiederum die Gefühlsentwicklung und die Seite der kontrapunktischen Progression in sich abschließen und aufheben müssen, eine unmöglich zu erfüllende Aufgabe. Da es nach Carl Dahlhaus keine Theorie der Fuge gab und gibt, bot diese Gattung zwar für Bach ein hervorragendes, weil widerstandsloses Arbeitsinstrument für die Ausführung seiner Idee, verstellte ihm aber die Möglichkeit, aus ihr ein übergeordnetes Ziel abzuleiten, so wie es später mit der Sonate und Sinfonie eher möglich war.

Bach komponierte ins Unbekannte hinein mit einem Mittel, das von sich aus auf keinen Schluß hinführte. Die Geschichte der Kunst der Fuge ist eine Geschichte der Einsamkeit, des Suchens, des Entdekkens, des Experimentierens, des Forschens - und des Scheiterns. Das Werk wurde mit Bach alt und starb mit ihm.

Ein musikalischer Zusammenhang von neunzig Minuten, auf einem Klavier im Kennerkreis vorgetragen, mehr als zwanzigmal von einer Pause unterbrochen, jedesmal wieder mühselig mit einer Exposition beginnend, um dem Gattungsauftrag zu genügen und dann recht schnell wieder zum eigentlichen Arbeitsziel zu gelangen, der Weiterführung der Durchführungs-, Variations- und Abspaltungs- technik - ein unmögliches Unternehmen.

Um 1750 konnte noch niemand, auch nicht Bach, ein monumentales, autonomes, in sich geschlossenes Instrumentalwerk komponieren. Denn: Eine Fugensinfonie kann es nicht geben. Die Wiener Klavier- und Sinfoniemusik ist die - nunmehr erfolgreiche - Fortsetzung des Versuches.1



1 Peter Schleuning, »Johann Sebastian Bachs ðKunst der FugeЫ, dtv/Bärenreiter München/ Kassel 1993, gekürzte, leicht geänderte Textfassungen; auf zahlreiche Quellenhinweise nach Zitaten wurde der leichteren Lesbarkeit wegen hier verzichtet. Die vollständigen Texte mit sämtlichen Angaben finden sich im Buch zwischen S. 179 und S. 254.