Jean Barraqué (1928-1973)

Sonate pour piano (1950-1952)

Jean Barraqué, geboren am siebzehnten Januar 1928 in der Pariser Vorstadt Puteaux, verbrachte sein Leben fast ausschließlich in Paris. Von den Eltern, die eine Metzgerei betrieben, gingen künstlerische Impulse kaum aus. Prägend indes wirkte die Religiosität der Mutter; sie schlug sich im Wunsch des Kindes nieder, das Priesteramt zu ergreifen, dürfte aber auch die spätere Wendung zum Atheismus provoziert haben. Die Zugehörigkeit zur Maîtrise de Notre Dame 1940-1943 brachte zwar tägliche Musikübung mit sich, doch war die definitive Hinwendung zur Musik eine Folge der Begegnung des Zwölfjährigen mit Schuberts Unvollendeter. Um 1947 nahm Barraqué privaten Unterricht in Kontrapunkt und Harmonielehre bei Jean Langlais, der ihm die Tradition der Schola Cantorum vermittelte. Zugleich weitete Barraqué seinen Horizont autodidaktisch; nachhaltigen Eindruck machte das Buch Schoenberg et son ecole von Rene Leibowitz, das er bei Erscheinen 1947 las. 1948-1951 war er Hörer in Messiaens Analysekurs am Conservatoire, wo er besonders zu Karel Goeyvaerts und Michel Fano in näheren Kontakt trat. Vom ersten für gültig befundenen Werk an, der Sonate für Klavier (1950-1952), zeigte sich Barraqué der seriellen Idee verbunden, zu deren ästhetischer Reflexion er auch mit grundlegenden Aufsätzen beitrug.

1951-54 erprobte er am Studio des französischen Rundfunks unter Pierre Schaeffer die Möglichkeiten der Musique Concrète. Damals stand er in regem künstlerischem Austausch mit Boulez, der sich 1956 und 1960 für erste Aufführungen seiner Werke im Domaine Musical einsetzte; in den 60er Jahren wich jedoch das freundschaftliche Verhältnis zunehmender Entfremdung.

Durch die Beziehung zu Michel Foucault 1952-1956 intensivierte sich Barraqués Beschäftigung mit Nietzsche und der existenzphilosophisch orientierten Literaturtheorie Maurice Blanchots. 1955 wies Foucault ihn auf den kurz zuvor in französischer Übersetzung erschienenen Roman »Der Tod des Vergil« von Hermann Broch hin, der zum Bezugspunkt für sein gesamtes Schaffen wurde.

1952-1957 war Barraqué Mitarbeiter der Zeitschrift Le Guide du Concert. Ein von ihr initiierter Analysekurs bildete den Ausgangspunkt für die großen, freilich meist unvollendet gebliebenen analytischen Arbeiten über Beethoven und Debussy, mit denen sich Barraqué 1961-1970 als Mitarbeiter des Centre National de la Recherche Scientifique befaßte, und deren Spuren sich auch in seiner populären Debussy-Monographie (1962, dt. 1964) finden.

Zu spektakulärer Berühmtheit, besonders im angelsächsischen Raum, gelangte Barraqué 1961, als André Hodeir den befreundeten Komponisten in seinem Buch La Musique depuis Debussy als einzig legitimen Erben Beethovens in der neueren Musikgeschichte pries. Im Verlauf der sechziger Jahre geriet Barraqué zunehmend in künstlerische und menschliche Isolation. Seine metaphysische Musikauffassung und die Gegnerschaft zu allen den Werkbegriff aushöhlenden Tendenzen schlossen ihn immer mehr vom aktuellen Musikleben aus. Neurotische Krisen und Alkoholismus hemmten die Arbeit und ließen viele Freunde Distanz beziehen. Barraqué starb in Paris am 17. August 1973 an den Folgen einer Gehirnblutung.

Barraqué war neben Boulez der bedeutendste französische Vertreter der seriellen Bewegung, in der er gleichwohl eine Sonderstellung einnahm. Rigoros hielt er bis zuletzt am Serialismus fest, was ihn ab Ende der fünfziger Jahre in Gegensatz zu den generellen Tendenzen der Avantgarde, besonders zu ihren aleatorischen Bestrebungen, brachte. Ein solches Beharren war ihm möglich, weil er von Anfang an gewisse Zwänge der seriellen Lehre in Erkenntnis ihrer Aporien gelockert hatte. Die damit gewonnenen Freiheiten gewährten Barraqués Musik eine »fieberhafte Expressivität von packender Dramatik, [...] wie sie Musikern seiner Generation häufig fehlte« (Pierre Souvtchinsky 1974). Das uvre Barraqués ist schmal. In seiner Gesamtdauer demjenigen Weberns vergleichbar, umfaßt es nur sechs Kompositionen - nicht eingerechnet Juvenilia und Fragmente sowie die dem Werk im emphatischen Sinne kaum zugehörige Etude für Tonband (1952/53). Bei ausgedehnten und einander vielfach überschneidenden Entstehungszeiten weisen die einzelnen Werke keine gravierenden stilistischen Differenzen auf. Die Einheit des Lebenswerks war bewußt verfolgtes Ziel, das mit dem 1956 gefaßten Entschluß, die ganze Schaffenstätigkeit einem auf Brochs Vergil-Roman bezogenen Zyklus zu widmen, seine explizite Kodifizierung erfuhr. Barraqués Werke sind sämtlich konstruktiv miteinander verbunden, also nicht nur die unzittelbar an La Mort de Virgile partizipierenden vokalinstrumentalen Kompositionen Le Temps Restitue (1956/1968), . . . au dela du hasard (1959) und Chant après Chant (1965/1966), sondern ebenso das opus ultimum Concerto (1962/ 1968) und, durch nachträgliche Rückbezüge, die dem Zyklus vorangehenden Werke, Sonate für Klavier (1950-1952) und die Nietzsche-Kantate Séquence (1950/1955).

Das Einzelwerk wurde von Barraqué nur als Ausschnitt aus dem übergeordneten Zusammenhang des Gesamtwerks gedacht und ist daher prinzipiell durch Einsätzigkeit, große Dimension, offene Grenzen und Zirkularität gekennzeichnet. Das Gesamtwerk aber galt ihm als unaufhörlich unvollendet (inachevement sans cesse), insofern es dem Zugriff des schaffenden Subjekts grundsätzlich entzogen bleibe, da es erst durch dessen Tod in die Existenz trete, und so zugleich der Geschichte überantwortet sei, die es immer weiterschreibe. Einzel- wie Gesamtwerk unterwarf Barraqué einer Formvorstellung, die auf unbegrenzte interne Erneuerung eines festgelegten Elementenvorrats zielt. Diesem Zwecke dient eine Art der Variation, die durch ihren improvisatorischen Charakter der nachträglichen Betrachtung eine Unterscheidung zwischen neu eingeführten und variiert wiederaufgenommenen Elementen unmöglich machen und die Musik so in ständiger Spannung zwischen konstruktivem Zusammenhang und Einmaligkeit des Augenblicks halten soll. Mit einer solchen offenen Form, die eine Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten nicht dem ausführenden Musiker, sondern dem Intellekt des Hörers eröffnet, glaubte Barraqué, dem für immer unanalysierbaren oder stets in der Vielfalt möglicher Analysen aufs neue glorifizierten Werk nahezukommen.

Das Serialismusverständnis, das der Musik Barraqués zugrundeliegt, ist nicht auf Durchrationalisierung und Objektivierung der musikalischen Konstruktion gerichtet, sondern auf ein Moment der Transgression: Die durch Prädeterminierung bewirkten Automatismen sollen jeden Sprachcharakter der Musik zerstören, um - durchaus im Sinne der Surrealismustheorie André Bretons - zum Sprechen zu bringen, was jenseits der Sprache ist, und so ungeahnte Erkenntnisschichten zu erschließen. Wie in der écriture automatique die Worte, der Alltagsinhalte entkleidet, auf der Grundlage phonetischer Affinitäten zueinander in Beziehung treten, so sollen die Elemente der Musik, von ihren äußerlichen Ausdrucksintentionen befreit, in einzig aus ihren Eigenschaften begründeter Konstellation selbst Ausdruck sein. Dies sprachkritische, jede traditionelle Syntax und Semantik, gleichwohl nicht die Kategorie des Ausdrucks negierende Moment ist sicher nicht zuletzt vor dem Hintergrund der geschichtlichen Katastrophe zu sehen, die die serielle Komponistengeneration in ihrer Jugend geprägt hatte; legitim schien ihr einzig noch der radikale Anschlag auf die mit der politischen Vergangenheit kompromittierten Ausdrucksweisen der musikalischen Vergangenheit, an die das Nachkriegsmusikleben doch bruchlos anzuschließen sich anschickte.

Sonate für Klavier (1950-1952), von Barraqués gültigen Werken das erstvollendete, verkörpert schlechthin die Auseinandersetzung des Komponisten mit der seinerzeit besonders virulenten seriellen Idee. Zwar komponierte Barraqué in Sonate so streng im Sinne des Serialismus wie sonst nirgends, aber er entwickelte bereits hier

- paradigmatisch für alle weiteren Werke - die für ihn bezeichnende Distanz zu bestimmten seriellen Forderungen. Zum einen wurde die Idee eines integralen Serialismus preisgegeben; die Prädeterminierungen der verschiedenen Parameter - Barraqué berief sich auf das Beispiel von Talea und Color in der Isorhythmie - sind vielmehr voneinander grundsätzlich unabhängig. Zum anderen verzichtete Barraqué auf die Vollständigkeit der seriellen Prädeterminierung; statt dessen arbeitete er mit verschiedenen Graden konstruktiver Strenge, die je danach bemessen sind, auf wie vielen Ebenen prinzipiell fakultative Prädeterminierungen zur obligatorisch dodekaphonen Tonhöhenordnung hinzutreten.

Formkonstitutiv wirken in Sonate zwei Gegensätze, in denen auf einer abstrahierten Stufe etwas vom alten Sonatendualismus fortlebt. Die Gegenüberstellung von schnellem und langsamem Haupttempo einerseits bewirkt eine hälftige Teilung des Werks. Andererseits wechseln auf einer untergeordneten Gliederungsebene zwei einander entgegengesetzte Schreibstile ab, die die Extreme der verfügbaren Strengegrade verkörpern: Im strengen Stil sind rhythmische Zellen, Tempo- und Lautstärkezonen sowie Oktavlagen auf der Grundlage von im vorhinein fixierten Elementenrepertoires und Dispositionsschemata geordnet [...]; dagegen entfaltet sich im freien Stil die Konstruktion dieser Bereiche außerhalb jeglicher Prädetermimerung.

Die Gesamtanlage von Sonate ergibt sich nun daraus, daß die beiden Gegensätze in einem einzigen, immerhin vierzigminütigen Prozeß fortschreitend neutralisiert werden. Wie zunehmend im schnellen Teil langsame Tempi und im langsamen Teil rasche Tempi an Bedeutung gewinnen, so dringen Elemente des freien Stils in die Abschnitte des strengen Stils und umgekehrt. Hierzu werden die verschiedenen Prädeterminierungen, deren Gleichzeitigkeit den strengen Stil überhaupt erst konstituierte, nach und nach dissoziiert. Der Gegensatz zwischen freiem und strengem Stil verlagert sich so aus der Horizontalen der Architektonik in die Vertikale des Tonsatzes. Die Auffassung der Sonate als Formschema, wie sie selbst noch in einem Werk wie Boulez' Deuxième Sonate (1946/48) durchschien, ist dadurch nun vollends - und zwar in doppeltem Sinne - aufgehoben in einem Sonatenbegriff, der ausschließlich noch ein prozeßhaftes Kompositionsprinzip meint. Dieses Kompositionsprinzip aber bewies genügend Tragfähigkeit für eine ganz neue und eigenständige Form, die in ihren monumentalen Ausmaßen im seriellen Umfeld der Zeit ohne Vergleich ist. [...]


1 Heribert Henrich, veröffentlicht als Lexikonartikel in Komponisten der Gegenwart, Loseblatt-Lexikon, Hanns-Werner Heister und Walter-Wolfgang Sparrer (Hg.), z. Zt. 2.726 Seiten, einschließlich 9. Nlfg., Register und 3Ordnern, edition text + kritik GmbH, München