John Cage (1912-1992)

Music for Piano #1 (1952)
Music for Piano #2 (1953)
Piano Music #3 (1953)
Music for Piano 4-19 (1953)
Music for Piano No. 20 (1954)
John Cage, geboren 1912 in Los Angeles,
gestorben 1992 in New York, gilt nicht erst seit
heute als eine der zentralen Figuren der
Musikgeschichte unseres Jahrhunderts. Breite seiner
Wirkung und Einfluß seiner Gedanken sind fast
unüberschaubar geworden.
In Europa begann die Rezeption seines Werkes in den
frühen fünfziger Jahren. Seit den
dreißiger Jahren komponierte Cage
ununterbrochen für sämtliche
verfügbaren Medien. Berühmt wurde neben
seiner Kunst des »präparierten
Klaviers« vor allem die kompositorische
Einbeziehung des Zufalls in musikalische
Entscheidungen, der ein grundlegend
verändertes ästhetisches Verständnis
des Kunstwerks zugrunde liegt: Der Komponist
schafft gleichsam nur noch die Rahmenbedingungen,
in denen sich die Klänge später frei und
auch für den Komponisten selbst unvorhersehbar
entfalten können.
Seit 1951 bildeten Zufallsentscheidungen, die mit
Hilfe des altchinesischen Orakelbuchs I Ching
getroffen wurden, eine zentrale Komponente von
Cages Arbeitsweise. Neben einem riesigen
kompositorischen Werk veröffentlichte Cage
mehrere Bände mit seinen gesammelten
Schriften, die zum Großteil selbst wieder
musikalische Kunstwerke sind. Außer als
Komponist ist Cage auch als Graphiker, Plastiker,
Dichter, Hörspielautor und Pilzforscher
bekannt geworden.1
Beschreibung der in Music for Piano 21-52
angewandten Kompositionsmethoden
1. Gegeben sind Tinte, Feder und Blätter
transparenten Papiers von bestimmter
Größe. Es wird eine Musterseite ohne
Notation irgendwelcher Art hergestellt; diese hat
vier vollständige Liniensysteme
(8 x 5 Linien). Zu einem
»vollständigen« Liniensystem
gehört auch ein genügend großer
Raum über und unter jedem Doppelsystem, so
daß jedes einzelne System (für jede Hand
eins) entweder im Violin- oder
Baßschlüssel benutzt werden kann. Ein
System läßt neun obere und sechs untere
Hilfslinien in gleichem Abstand wie die normalen
Linien zu; für den tiefsten Ton unter der
sechsten Hilfslinie muß noch etwas Raum
gelassen werden. Zwischen den beiden Systemen ist
ein wenig Raum freigelassen. Er wird durch eine
Linie geteilt; sie dient zur Notation von
Geräuschen, die mit der Hand oder mit einem
Schlaginstrument, entweder im inneren
Klaviergehäuse (über der Linie notiert)
oder durch Schläge gegen das äußere
Gehäuse (unter der Linie notiert) erzeugt
werden. Die Dimensionen der Musterseite sind so
kalkuliert, daß das gesamte Blatt innerhalb
der Ränder vollständig ausgenutzt
wird.
2. Die Musterseite wird weggelegt. Dann werden
Zufallsmanipulationen vom I-Ching abgeleitet, um
die Anzahl der Töne für jede Seite zu
bestimmen. Diesen Zufallsmanipulationen sind
gewisse Grenzen gesetzt (1-128 mögliche
Töne je Seite für die Stücke 21 bis
36; 1-32 Töne je Seite für die
Stücke 37-52), die sich aus der relativen
Schwierigkeit der Ausführung ergeben.
3. Ein leeres Blatt transparenten Papiers wird nun
so gelegt, daß die punktförmigen
Unregelmäßigkeiten im Papier leicht
sichtbar werden. Diese werden mit Bleistift
markiert, und zwar in einer Anzahl, die der durch
die Zufallsmanipulationen bestimmten Tonanzahl
entspricht.
4. Das mit Bleistift markierte Blatt wird nun nach
Art einer Registrierung auf die Musterseite gelegt;
dabei werden zuerst die durch das Papier
durchscheinenden Notenlinien und Zwischenräume
und dann Hilfslinien, soweit notwendig, mit Tinte
auf dieser Seite nachgezogen. Sodann werden
gewöhnliche ganze Noten überall dorthin
geschrieben, wo ein Bleistiftpunkt in den Bereich
der Notenlinien oder der Hilfslinien fällt;
schwarze Notenköpfe ohne Hals werden dort
geschrieben, wo immer ein Bleistiftpunkt zwischen
den beiden Systemen markiert ist. Dieses Verfahren
gilt nur annäherungsweise, da durch die
Anwendung der üblichen Linien und
Zwischenräume die größere Zahl der
Punkte in die Zwischenräume fällt. Ein
Punkt wird also auf oder zwischen die Linien
geschrieben, je nachdem, ob er näher an der
Linie oder näher am Zentrum des Zwischenraums
angetroffen wird.
5. Münzen werden nun achtmal geworfen
(für die 4 x 2 Systeme), um Baß- oder
Violinschlüssel (Kopf oder Adler) zu
ermitteln; diese werden mit Tinte eingetragen.
6. Die 64 Möglichkeiten des I Ching werden
durch Zufallsmanipulationen in drei Gruppen
eingeteilt, die verschiedenen Kategorien
entsprechen: normal, d. h. auf den Tasten zu
spielen; gedämpft, das heißt, die
anzuschlagende oder zu zupfende Klaviersaite mit
dem Finger zu dämpfen; gezupft (die beiden
letzten Gruppen werden auf den Saiten gespielt).
Beispiel: die Nummern 6 und 44 wurden geworfen:
dann gelten die Nummern 1-5 als normale, 6-43 als
gedämpfte und 44 als gezupfte
Klaviertöne. - Es hat sich ein gewisses
Übergewicht der Wahrscheinlichkeit zugunsten
der zweiten und dritten Kategorie herausgestellt;
obwohl das nicht sehr bedeutend erscheint, mag es
doch auf eine mögliche Änderung der
»Technik« (Kompositionsmethode)
hinweisen. Nachdem die Kategorien festgelegt sind,
werden Bezeichnungen neben den jeweiligen Noten
vermerkt: M für »muted«
(gedämpft) und P für »plucked«
(gezupft).
Auf ähnliche Weise wird bestimmt, ob eine Note
normal, erhöht oder erniedrigt ist; das gilt
natürlich nicht für die beiden
äußersten Tasten, da es für sie nur
je zwei Möglichkeiten gibt.
7. Damit ist die Aufzeichnung der Komposition
abgeschlossen. Vieles ist nicht festgelegt; es
bleibt der Aufführung vorbehalten. Deshalb
wurde dem Manuskript folgende Anmerkung
vorangestellt:
»Diese Stücke sind in zwei Gruppen von je
16 aufgeteilt (21-36; 37-52), die entweder einzeln
oder alle gespielt werden können, gleichzeitig
mit der Music for Piano #19, oder nicht. Die
Zeitdauer der Stücke ist unbestimmt; es bleibt
freigestellt, ob sie von Pausen getrennt werden
oder nicht; sie können sich
überschneiden, wenn z. B. 21-36 und 37-52
gleichzeitig auf einem anderen Klavier gespielt
werden, oder wenn ein begabter Pianist eine
Kombination aus diesen Stücken gleichzeitig zu
spielen vermag. Ausgehend von einer vom Programm
vorbestimmten Zeitdauer können die Pianisten
ihr Spiel so kalkulieren, daß ihr Konzert die
gegebene Zeit ausfüllt. Die Dauer der
einzelnen Töne und die Lautstärken sind
freigestellt. [...]«2
Kommentar
Eine Aufführung ist durch die vorher bestimmte
Programmdauer charakterisiert. Diese Dauer wird vom
Spieler mit einer Stoppuhr kontrolliert. Daraus
ergibt sich zunächst die Dauer für eine
ganze Seite (indem man die zur Verfügung
stehende Gesamtzeit durch die Anzahl der Seiten
dividiert); davon abgeleitet ergibt sich
beispielsweise die Dauer für ein Doppelsystem.
Obwohl der Raum einer Seite hier der Zeit
gleichgesetzt wird, ist es denkbar, ihn als
fließend aufzufassen, und zwar nicht nur als
gleichmäßig, sondern auch als schneller
und langsamer fließend; denn die
Aufführung wird durch einen Menschen und nicht
durch eine Maschine realisiert. So ist letztlich
mit der Notation nichts über die
Aufführungszeit ausgesagt. Was die Klangfarbe
angeht (die Geräusche und die drei
Kategorien), so ist so gut wie nichts festgelegt.
Das ist besonders dort der Fall, wo P als eine
gezupfte gedämpfte oder M als eine
gedämpfte gezupfte Saite aufzufassen ist.
Außerdem sind auch die Stellen auf den Saiten
nicht angegeben, wo die zuletzt genannten
Manipulationen vorgenommen werden. Ferner - und
dies mag als grundlegende Feststellung betrachtet
werden - sind keine spezifischen Angaben gemacht
über die Architektur des Raumes, in dem die
Musik gespielt werden soll, sowie über die
Plazierung der Instrumente (üblich ist ein
größerer Abstand) und über die
Anzahl der Instrumente. All dies, offensichtlich
von wesentlicher Bedeutung, weist auf die Frage
hin: Was ist komponiert worden?2
Zu Music for Piano
[...] In diesem Werk wurden die Töne
durch Unregelmäßigkeiten in dem Papier
bestimmt, auf dem es niedergeschrieben wurde. Die
Anzahl der Unregelmäßigkeiten wurde
durch Zufall bestimmt. Die Notation geschah mit
Tinte, und die Stufen des Kompositionsprozesses
sind in einem Aufsatz in »die reihe«
beschrieben. Obwohl in Music for Piano
erklärtermaßen die Kontrollfunktion des
Verstandes für die Struktur und die Methodik
der kompositorischen Mittel abwesend ist, so wird
ihre Bedeutung für das Klangmaterial bei
Untersuchung der Klänge selber klar: sie sind
nur einfache Töne eines gewöhnlichen
Konzertflügels, auf der Tastatur gespielt,
gezupft oder auf den Saiten gedämpft, zusammen
mit Geräuschen aus dem Inneren oder
Äußeren der Klavierkonstruktion. Die
Begrenztheit dieser Möglichkeiten macht das
Resultat den ersten Sprechversuchen eines Kindes
oder dem Herumtasten eines blinden Mannes
ähnlich. Der Verstand erscheint wieder als
Vermittler der Begrenzungen, in denen dieses kleine
Spiel abläuft. Etwas Weitreichenderes ist
erforderlich: eine Komposition von Klängen
innerhalb eines Universums, das eher auf der Natur
der Klänge beruht als auf dem Verstand, der
sich vorstellen kann, wie sie entstehen.
[...]3
1 Herbert Henck, John Cage - Music of Changes,
Booklet der WERGO-CD 6099-50 © 1988
2 John Cage, Composition as Process, »die
reihe«, Heft 3, Wien 1957, Deutsche
Übertragung von Christian Wolff, © 1957
by Universal Edition.
3 John Cage, zitiert nach S. 356 des Programmbuches
»Inventionen '92«, Berlin 1992
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