Josef Matthias Hauer (1883-1959)

Klavierstücke mit Überschriften nach Worten
von
Friedrich Hölderlin op. 25 (1923)
Im Bewußtsein der musikalischen Welt lebt Josef
Matthias Hauer, ähnlich wie Erik Satie oder Edgard
Varèse, als eine der originellen
Außenseitergestalten der neuen Musik. Seine
Kompositionen sind bis auf wenige selten aufgeführte
Lieder und Klavierstücke weitgehend vergessen, seine
Schriften und Manifeste meist nur vom Hörensagen
bekannt. Wohl weiß man, daß Hauer schon einige
Jahre früher als Schönberg ein autonomes und
eigenwilliges Konzept der Zwölftonkomposition entworfen
hat. Wohl wird sich mancher vielleicht noch erinnern an die
erfolgreichen Uraufführungen seiner 7. Orchestersuite
beim IGNM-Fest 1927 in Frankfurt am Main und seiner
Hölderlin-Kantate Wandlungen beim Kammermusikfest in
Baden-Baden 1928, die beide von Hermann Scherchen dirigiert
wurden. Auch kann man heute aus wenigen, in den letzten drei
Jahrzehnten publizierten Monographien und Studien ein
detailliertes Bild von Hauers Persönlichkeit als Mensch
und Künstler gewinnen. Doch sind die Konturen dieses
Bildes immer noch seltsam undeutlich, verschwommen. Was
Hauer an Kompositionen und Schriften nicht zu Lebzeiten
veröffentlicht hat, ist größtenteils
verschollen oder verliert sich im Dunkel verstreuter,
geheimnisumwitterter Nachlaßhorte. Zeugnisse von
Freunden und Zeitgenossen, oft widersprüchlich in
Inhalt und Deutung, schwanken zwischen bedingungslos
verehrender Schwärmerei und engstirnigem
Unverständnis. Und als man 1966 bei den Wiener
Festwochen Hauers Gotthelf-Oper Die schwarze Spinne zum
erstenmal auf die Bühne brachte, da sprach man nicht
primär von einer späten Huldigung Österreichs
für einen großen Österreicher, vielmehr von
einer abenteuerlichen Pioniertat.
Diese Wiener Opernpremiere blieb übrigens ebenso
folgenlos wie eine Retrospektive Hauerscher Orchesterwerke,
die der Steirische Herbst drei Jahre später zum 10.
Todestag des Komponisten in Graz veranstaltete. Immerhin
konnte man damals zum ersten Mal die Apokalyptische Fantasie
op. 5 für Kammerorchester hören, eine seiner
frühesten überlieferten Kompositionen. Sie war im
Herbst 1913 entstanden und wurde, damals noch als dritte
Symphonie bezeichnet, in einer Fassung für Klavier und
Harmonium 1914 uraufgeführt. Hauer hat dieses
merkwürdig schillernde, kosmische Endzeitvisionen
suggerierende Stück in einem Aufsatz von 1926 als
»mein eigentliches Sturm- und Drang-Werk«
bezeichnet.
Daß Hauer mißachtet, übergangen, vergessen
wurde, ist freilich nicht allein einer unverständigen
Mit- und Nachwelt anzukreiden. Er selbst hat es sich und
allen sachlich um die Erkenntnis seines Wesens und Wirkens
Bemühten nicht leicht gemacht. Sein kompositorisches
uvre weist keine epochemachenden Werke auf, sein
Einfluß als Lehrer blieb gering. Anders als
Schönberg hat Hauer nie regelrecht »Schule
gemacht«. Wohl hatte er stets Schüler, oder besser
gesagt: »Jünger« um sich versammelt, kaum
jedoch Musiker, sondern vornehmlich Maler, Bildhauer,
Architekten, Journalisten, Philosophen. Sein
künstlerisches Außenseitertum, seine versponnene
und zugleich hochambitionierte Musikphilosophie, nicht
zuletzt seine schrullig-asketische Lebensführung, die
ihn schon zu Lebzeiten mit dem Nimbus einer legendären
Erscheinung umgaben, faszinierte die Schriftsteller unter
den Zeitgenossen in besonderem Masse. Der Wiener Epiker Otto
Stoessl, einer der treuesten Anhänger des Komponisten
in seiner Frühzeit, gibt in seinem Roman
Sonnenmelodie eine dichterisch sublimierte
Lebensbeschreibung Hauers. Die Übungen der Kastalier in
Hermann Hesses Glasperlenspiel scheinen weitgehend
von Hauers Lehre inspiriert. Und Franz Werfel setzte ihm in
seinem Verdi-Roman ein Denkmal in der Gestalt des
fanatischen jungen Musikers Mathias Fischböck.
Auch Hauers theoretischem uvre, das seiner Substanz und
seinem Umfang nach wohl am ehesten noch hätte schul-
oder stilbildend wirken können, blieb eine nachhaltige
Resonanz versagt - nicht zuletzt, weil seine
Gedankengänge vielfach bizarr und logisch inkonsistent
erscheinen, zuweilen mit schwerverdaulichem Ballast beladen
und zudem keineswegs sprachgewandt formuliert sind. Dennoch
haben manche seiner originellen, zukunftsweisenden Ideen
erkennbare Spuren in der Geschichte der neuen Musik
hinterlassen, zumal diese Ideen aus der Perspektive der
musikalischen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten
offensichtlich an Aktualität gewinnen. Hauers
gewichtigste Werke aus den zwanziger Jahren üben mit
der sanften Intensität ihres seltsam anachronistisch
anmutenden Wohlklangs auch heute noch einen
eigentümlich zwingenden Reiz aus, und in den
Zwölftonspielen seiner Spätzeit sind manche
Charaktere jener »meditativen« Musik
vorweggenommen, die seit den siebziger Jahren - und nicht
nur in der Avantgardeszene - weltweit an Popularität
gewann.
Das Leben des Mannes, der 1959 verarmt und fast vergessen in
einem Mietshaus der Wiener Josefstadt verstarb, war
ähnlich wie das des gleichaltrigen Anton Webern in
aller Stille und Abgeschiedenheit und in einem gänzlich
unspektakulären Rahmen verlaufen. Hauer kam am 19.
März 1883 in Wien Neustadt zur Welt und wurde wie so
viele bedeutende Musiker seiner Heimat Lehrer. Während
er in Krumbach und Wien Neustadt unterrichtete, ließ
er sich als Organist, Cellist und Klavierspieler ausbilden,
studierte Musiktheorie und Komposition, absolvierte noch
Staatsprüfungen als Mittelschullehrer für Gesang,
Violin- und Klavierspiel und begann als
Achtundzwanzigjähriger zu komponieren. Seine
frühen Werke, die Opera 1-18, entstanden zwischen 1912
und 1919, mit einer mehrjährigen, durch den
Kriegsdienst bedingten Unterbrechung.
Diese Kompositionen - Lieder und Klavierstücke
hauptsächlich, die Hauer später rückblickend
als den »ersten Ansturm meiner Zwölftonmusik«
bezeichnete - sind formal frei ausschwingende,
miniaturförmige Gebilde von stark chromatischer
Färbung. Zwölftönig im strengen Sinn sind sie
ebensowenig wie Schönbergs und Weberns zeitlich
parallel rangierende Stücke in freier Atonalität,
mit denen sie die aphoristische Struktur und zuweilen auch
den expressiven Gestus gemein haben. Schon in dieser
frühen Phase zeichnet sich indes ein Prozeß ab,
der Prinzipien von Hauers späterem Schaffen tendenziell
vorausnimmt. Ein Vergleich der beiden Klavierzyklen
op. 3 von 1913 und op. 16 von 1919 mag diese Entwicklung
verdeutlichen. Die Sieben kleinen Klavierstücke op. 3
knüpfen ebenso fraglos und selbstverständlich an
der Tradition motivisch-thematischer Arbeit an wie
Schönbergs op. 11, das Hauer damals gewiß noch
nicht kannte. Die formalen Beziehungen sind deutlich
ausgeprägt, Satztechnik und Ausdruck bilden eine
unauflösliche Einheit. Manche Stücke dieser Serie
wirken derart konzentriert in ihrer Substanz, daß fast
jeder Ton motivisch legitimiert erscheint. Betrachtet man
unmittelbar daneben die Nachklangstudien op. 16, so wird
schon allein am Notenbild der Unterschied hinreichend
deutlich. Kontrast und Vielgestaltigkeit der Charaktere
artikulieren sich nicht mehr auf kleinstem Raum, sondern nur
noch in der Abfolge der einzelnen Teile des Zyklus. In
manchen Stücken wird auf eine profilierte Thematik im
herkömmlichen Sinn ganz verzichtet zugunsten der
Entfaltung reiner Bewegungsfiguren, und statt gegliederter
Melodik dominiert jenes fließende Kontinuum, das Hauer
als das »reine Melos« bezeichnete. Bemerkenswert
erscheint, daß eine solche
Entwicklung, die - nach Rudolf Stephans Formulierung -
»von der ausdrucksvollen Miniatur zur gewollten
Einfachheit des Spielstücks führt«, sich
bereits an diesen frühen Kompositionen nachweisen
läßt, noch bevor Hauer seine Arbeit systematisch
zu durchdenken begann und das Prinzip des ausdruckslosen,
dynamisch, farblich und rhythmisch indifferenzierten Melos
zum Hauptstück seiner Theorie erhob.
1915 war Hauer mit seiner Familie nach Wien
übersiedelt. Die Metropole bot, neben dem Anreiz zu
umfangreicherer musikalischer Betätigung, auch
günstigere Möglichkeiten, sich als Komponist
Gehör zu verschaffen und gleichgesinnte Freunde zu
finden. Hauer lernte Peter Altenberg, Hermann Bahr, Karl
Kraus, Adolf Loos und Johannes Itten kennen. Der Maler Erwin
Lang, von dem einige der besten Hauer-Porträts stammen,
vermittelte die Bekanntschaft mit der Juweliers- und
Mäzenatenfamilie Köchert, die den Komponisten in
Notzeiten großzügig unterstützte und heute
noch viele seiner Manuskripte aufbewahrt. Wegen seiner
angegriffenen Gesundheit wurde Hauer 1918 aus dem
Militärdienst entlassen und 1919, nach kurzer
Wiederaufnahme seiner Lehrtätigkeit, vorzeitig in den
Ruhestand versetzt. Die erzwungene Schaffenspause
während des Krieges forderte, ähnlich wie bei
Schönberg, zur theoretischen Auseinandersetzung mit dem
bisher Komponierten heraus. In enger Zusammenarbeit mit dem
Philosophen Ferdinand Ebner, den Hauer während seiner
Studienzeit kennengelernt hatte, entstand 1918 die Schrift
Über die Klangfarbe, die 1920 in erweiterter Form unter
dem Titel Vom Wesen des Musikalischen erschien. Der Sommer
1919 brachte eine weitere entscheidende Wende: Hauer
entdeckte das »Gesetz der zwölf Töne«
und begann, ihre Systematik zu erforschen. Kompositorisch
wird die Wende durch op. 19 markiert; mit diesem
programmatisch als Nomos (griechisch für Gesetz,
Ordnung) betitelten Stück, einem der frühesten
streng dodekaphonen Werke der Musikgeschichte, beginnt
Hauers zweite Schaffensperiode, die bis op. 89 reicht und
einen Zeitraum von zwanzig Jahren umfaßt.
Die theoretischen Arbeiten Hauers, der als Komponist
zunächst wenig Resonanz fand, standen von nun an im
Zentrum der Auseinandersetzung mit seiner Leistung. Neben
den bereits genannten Broschüren publizierte Hauer 1923
seine Deutung des Melos, 1925 und 1926 zwei weitere
Bändchen theoretischer Schriften mit den Titeln Vom
Melos zur Pauke und Zwölftontechnik, daneben eine ganze
Reihe von Aufsätzen, die vorwiegend in den seinerzeit
führenden Zeitschriften für neue Musik Melos und
Musikblätter des Anbruch erschienen. In all diesen
Arbeiten - und das ist charakteristisch für Hauers
Auffassung von seinem Künstlertum - ist nicht allein
von Kompositionstheorie und Satztechnik die Rede, sondern
immer auch vom gedanklichen Rahmen und den weltanschaulichen
Bezügen des Systems.
Zentralbegriff der Hauerschen Musiktheorie ist
»Melos«, zu dem »Rhythmus« als
Gegenbegriff fungiert. Dem Melos ordnet er die atonale, dem
Rhythmus die tonale Musik zu. Zwischen diesen beiden Polen,
die er mit weiteren Begriffspaaren wie Geist und Instinkt,
Mythos und Sprache, Intuition und Idealismus belegt, hat
sich nach seiner Auffassung von jeher die Geschichte der
Menschheit, nicht nur die der Musik bewegt. Beispielhaft
sieht er den Dualismus in den Musikkulturen der Inder
einerseits und der Chinesen andererseits verkörpert. So
schreibt er 1922: »Das rhythmisch kultivierteste Volk
der Erde sind die Inder, während die Chinesen die
reinste Meloskultur seit Jahrtausenden besitzen. Indien ist,
besonders für die Griechen, die Fundstätte
für die Rhythmuskultur, von der Europa 'gebildet'
wurde.« Die ganze abendländische Musik, die sich
nach seiner Formulierung »unter der Abhängigkeit
vom griechischen Sprachidealismus« entwickelt hat und
folgerichtig in die, wie er meinte, Sackgasse der
Tonalität geriet, lehnte Hauer ab. Zwar wollte er der
Musik Bachs, Haydns, Mozarts und Beethovens keineswegs ihre
Größe und Bedeutung absprechen, doch war er fest
davon überzeugt, daß die Musik des 19. Jh., vor
allem Wagners Opern, ein Verfallsprodukt, ein
zwangsläufiger Irrweg ins Gewaltsame, Groteske und
Mondäne sei. Demgegenüber glaubte er, im atonalen
Melos das einzig Wahre und objektiv Seiende gefunden zu
haben, »das Urgesetz des Musikalischen, an dem jede
Musik der Erde, die vergangene, gegenwärtige und
zukünftige gemessen werden kann.« Nur durch die
Erkenntnis des atonalen Melos als der eigentlichen Basis
aller Kultur, so meinte er, könne die Welt aus ihren
Fehlentwicklungen gerettet werden.
Die letzte Konsequenz dieser Anschauung, die in den
frühen Schriften durchgängig präsent ist und
sich in der Zeit nach 1940 zum mystisch gefärbten
Dogmatismus steigert, ist die Negation der Musik als Kunst
und des Musikers als Künstler. Er selbst verstand seine
Berufung durchaus nicht mehr im Sinne eines Komponisten
traditioneller Prägung, vielmehr als die eines
Hörenden, »der das Ewige im Wesen der Dinge
vernimmt« und es innerhalb der strengen und einzig
legitimen Spielregeln der Zwölftontechnik musikalisch
zu deuten und zu realisieren vermag. »Die absolute
Vollendung und Lösung der Musik, der Kunst aller
Künste, ist das Ende der Kunst überhaupt«,
schrieb er kurz nach dem zweiten Weltkrieg. War die Musik
als Kunst für Hauer gestorben, so lebte sie weiter als
Spiel. Lehrbar und lernbar als Zwölftonspiel, wie er
fast alle seine nach 1939 entstandenen Kompositionen nannte,
sollte sich die Musik nach seiner Prophezeiung spielend
verbreiten. »Zwölftontechnik«, heißt es
in einem seiner späteren Manifeste, »ist eine
äußerst lehrreiche Spielerei für
Gymnasiasten, Hochschüler,
Universitätsprofessoren, Staatsmänner, die auf
diesem allumfassenden Sprachboden lernen, ihre
Spezialkenntnisse in das Große Ganze richtig
einzubauen, einander zu verstehen, die Völker weise zu
regieren.«
Die absichtsvolle Einfachheit der Spielmusik, die sich schon
an manchem Frühwerk zeigt, ist für diese
Zwölftonspiele nun durchgängig signifikant. Ihnen
haftet in mancher Hinsicht etwas Anarchisches an, etwas von
überzeitlichem Wesen. Sie wirken grenzenlos, weil
Anfang und Ende ohne Notwendigkeit gesetzt sind, als
hätte man aus einem permanenten Klangkontinuum
beliebige Teile herausgeschnitten. Tempo und Dynamik
zeichnen ein sanftes Mittelmaß vor, sind ad
libitum-Zutaten wie die Instrumentation, der keinerlei
koloristischer Charakter zukommt. Grundstruktur aller
Zwölftonspiele ist der vierstimmige Satz, gewonnen aus
den Ligaturen der Einzeltöne einer quasi ständig
in sich rotierenden Reihe, beginnend und endend mit einem
großen Septakkord, worin Hauer die vollkommene
Verschränkung von Dur und Moll sah. Die kompositorische
Arbeit beschränkt sich aufs Manipulieren, aufs
Auswählen bestimmter Handgriffe und Prozeduren aus
einem imaginären Katalog. Nicht mehr legt der Autor
für ein bestimmtes Werk eigens neue Geleise, er stellt
lediglich die Weichen. Solches Vorgehen hat mit Komponieren
nach traditionellem abendländischem Verständnis
kaum noch etwas gemein: es ist reines Spiel oder auch, wenn
man so will, musikalische »Konzeptkunst«.
Zu einigen seiner schönsten, auch heute noch
unvermindert lebendig und überzeugend anmutenden
Kompositionen ließ Hauer sich von Dichtungen
Hölderlins inspirieren. Ebner, der Freund der
frühen Jahre, hatte ihn auf den Dichter hingewiesen und
ihn auch manches Mal bei der Auswahl der Texte beraten. Die
ersten Hölderlin-Vertonungen, fünf Lieder für
eine Singstimme und Klavier op. 6, entstanden 1914; sie sind
der gefeierten Wagner-Sängerin Anna Bahr-Mildenburg
gewidmet. »Ich machte Hauer auf Hölderlin
aufmerksam«, berichtet Ebner in seinen
Lebenserinnerungen, »und er begann Hölderlinlieder
zu komponieren. Viele Jahre später erklärte er mir
einmal, einen anderen Dichter könne er für seine
Kompositionen nicht brauchen.« In der Tat hat Hauer,
bis auf wenige Ausnahmen, nur Hölderlin-Texte für
seine Vokalwerke verwandt. Den ersten Liedern folgte das
dreiteilige op. 12 im Winter 1914-1915 und in den
frühen zwanziger Jahren vier weitere Liederzyklen auf
Gedichte Hölderlins. Mit traditionellen Aspekten von
Wortvertonung, von musikalischer Interpretation
literarischer Substanz wird man Hauers Hölderlinliedern
freilich kaum gerecht. Der Begriff des Liedhaften generell
scheint hier problematisch, so sehr nähern sich diese
Gebilde dem Rezitativ. Ihr Rhythmus folgt fast immer
schematisch dem Textmetrum. »Ich schrieb die Texte
einfach unter meine Musik«, bekannte Hauer später
einmal im Gespräch mit Freunden, und dieser Ausspruch,
wie überspitzt er auch wirkt, läßt sich an
vielen seiner Vokalkompositionen verifizieren.
Charakteristisch ist, daß die Musik den Text sozusagen
unaufdringlich begleitet, ihn mit zarten Farben und
ausdrucksvollen melodischen Bögen umspielt. Daher
wirken auch gerade jene Passagen am gelungensten, bei denen
- ohne greifbare kausale Verknüpfung - der unsinnlich
schwebende Zauber der Musik mit dem schwelgerischen Duktus
der Sprache gleichsam selbstverständlich parallel
läuft.
Hauer apostrophierte Hölderlin gern als den vom
Schicksal zum Dichter degradierten Musiker und hatte es
sich, wie er 1926 schrieb, »zur Lebensaufgabe gestellt,
Hölderlin auszuschöpfen.« Auch die Texte
seiner großen, Ende der zwanziger und Anfang der
dreißiger Jahre entstandenen Kantaten Wandlungen, Vom
Leben, Emilie vor ihrem Brauttag und Der Menschen Weg
stammen von Hölderlin. Diese Kantaten, die Hauer auf
dem Höhepunkt seiner schöpferischen Entwicklung
wie seiner äußeren Karriere als Komponist
geschrieben hat, gehören zu seinen bedeutendsten,
melodisch reizvollsten Werken. Chorische und solistische
Partien gehen darin nahtlos ineinander über, werden
vielfach auch parallelgeführt. Der verhaltene,
rezitativische Duktus dominiert; nur selten deuten extreme
Tonlagen, rasche Bewegung und pointierte Dynamik
stärkere emotionelle Emphase an. Die stufenreiche
Melodik des Satzes steht dabei in auffälligem Kontrast
zur »gewollten Monotonie« des Rhythmus und zum
spröden, an die obligate Instrumentationsart des
frühen 18. Jh. anknüpfenden Orchestersatz - einem
Kontrast, der für das aggressions- und
schnörkellose, allem Lärm und aller Buntheit
abholde Klangbild von Hauers Partituren generell
charakteristisch ist.
Neben diesen auf ihre Weise einzigartigen und im
stilistischen Kontext ihrer Enstehungszeit isoliert
dastehenden Werken wird man wohl Hauers Zwölftontheorie
als einen nicht minder markanten Beitrag zur Geschichte der
neuen Musik werten müssen. Die Theorie war es auch, die
Schönberg am meisten an dem in gleicher Sache
beschäftigten Kollegen interessierte. Bekannt ist,
daß Hauer und Schönberg sich später,
adjutiert von Schülern und Mitläufern, in einen
Prioritätsstreit um die »Erfindung der
Zwölftontechnik« verwickeln ließen - einen
Streit, der heute, nach der Wiederentdeckung wesentlich
älterer und ebenso autonomer Zwölftonverfahren
etwa bei russischen Komponisten der Skrjabin-Schule, ohnehin
müßig erscheint. An gutem Willen zur
gegenseitigen Verständigung hatte es dabei anfangs
keineswegs gefehlt. Hauer wandte sich schon 1913 mit der
Bitte um Begutachtung seiner Arbeiten an Schönberg.
Persönlich trafen die beiden Komponisten erstmals 1917
in Schönbergs Wiener Wohnung zusammen, wo Hauer aus
eigenen Werken vorspielte und sich von Schönberg
kritisch beraten ließ. 1919 wurden mehrere
Kompositionen Hauers in Schönbergs Wiener Verein
für musikalische Privataufführungen vorgetragen.
Briefe Schönbergs von 1923 zeugen sogar von Plänen
für ein gemeinsam zu verfassendes Buch, eine gemeinsame
Schule oder eine publizistische Diskussion in Form von
offenen Briefen. Danach scheint die Verbindung abgerissen zu
sein. Spannungen und Mißtrauen steigerten sich
allmählich. Hauer vor allem bestand nachdrücklich
auf der Priorität seiner Entdeckung, zumal
Schönbergs Zwölftontechnik als einzige einer
breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde und seine
Kompositionen beachtliche Resonanz fanden, während
Hauers Theorien nur im Bewußtsein eines kleinen
Kreises von Freunden und Bekannten lebten.
Dabei weisen Schönbergs und Hauers Methoden der
Disposition des Zwölftonmaterials im einzelnen oft mehr
Übereinstimmungen als Divergenzen auf. Für beide
galt als verbindlich, daß jeder Komposition eine
bestimmte Anordnung der zwölf Töne zugrunde liegen
müsse. Hauer nannte diese Anordnung Konstellation oder
Grundgestalt; beides bezeichnete bei ihm zunächst
gleichermaßen melodisches wie harmonisches Arrangement
der Töne. Schönberg übernahm von Hauer den
Terminus Grundgestalt, verstand darunter jedoch lediglich
die sukzessive Folge der Töne. Dafür wiederum
hatte Hauer die Bezeichnung melischer Grundgedanke
gewählt. Von den aus Schönbergs Verfahren
geläufigen Spiegelformen der Reihe bevorzugte Hauer den
Krebs. Die Transpositionen der Reihe und ihrer
Verwandlungsformen waren für beide Komponisten
geläufige Selbstverständlichkeit. Das Prinzip der
Reihenteilung, das beim späten Schönberg und in
der orthodoxen amerikanischen Zwölftonschule eine
große Rolle spielte, hatte Hauer bereits 1926 in
seiner Lehre von den Tropen entwickelt. Er bezifferte das
Total aller Melosfälle, das heißt aller denkbaren
Kombinationen der zwölf temperierten Halbtöne mit
479 001 600 und klassifizierte sie in einem System von 44
Grundtypen, die er Tropen nannte. Jede Trope gliedert sich
in zwei Sechsergruppen, deren Inhalt nur dem Tonvorrat,
nicht der Anordnung nach festgelegt ist. Es handelt sich bei
den Tropen also weder um Melodiefiguren noch um Akkorde,
vielmehr um Intervallkonstellationen, die harmonisch wie
melodisch auskomponiert werden können. Und aus diesem
Reservoir von Bauelementen hat Hauer jene stereotypen
Tonsatzmodelle entwickelt, die die Werke seiner zweiten
Schaffensperiode weitgehend bestimmen. Ihr eigentümlich
formelhafter, anonymer Charakter - deutlich etwa im
Violinkonzert, in den Orchestersuiten und Streichquartetten
- erinnert mitunter auch an chronologisch benachbarte Werke
der neoklassischen und neubarocken Stilrichtung.
Hauers Leistung, wie persönlichkeitsbezogen und
begrenzt in ihrer Wirkung sie auch immer sei, bedarf keiner
Rehabilitierung. Auf Analogien zwischen seinen Konzeptionen
und gewissen Entwicklungszügen der neuen Musik nach
1945 ist bereits hingewiesen worden. In seiner
Zwölftontechnik jedenfalls treten Ansätze einer
Auffassung zutage, die Komposition nicht als Alleingang
individueller Inspiration, sondern als klingenden Reflex
einer umfassenden, objektiven Materialordnung begreift.
Solange freilich in der Avantgardeszene der überkommene
europäische Kunstwerk- und Geniebegriff dominierte,
hatte Hauers uvre kaum eine Chance. Der subjektive Tonfall,
der geniale Schnörkel, das Zurschaustellen des eigenen
Seelenlebens waren ihm stets verhaßt. Und ebenso
deutlich distanzierte er sich von der Vorstellung, daß
eine Komposition nur durch Gestaltenvielfalt, Ausdrucks- und
Kontrastreichtum legitimiert sei - oder, wie Adorno es
formulierte, nur durch die Konfiguration des Verschiedenen
gerate. Viel eher nimmt Hauers Denken manche Züge der
Ästhetik John Cages vorweg, einer Ästhetik, die
Musik als von persönlichen Entscheidungen und
individuellen Vorlieben möglichst freigehaltene, quasi
anonyme Veranstaltung begreift. Nicht von ungefähr
haben Hauer wie Cage ihre Musik häufig mit Hilfe von
Zufallsoperationen etwa nach dem chinesischen I Ching
erstellt. Und noch verblüffendere Parallelen findet man
zwischen manchen Zwölftonspielen Hauers und
amerikanischer minimal music mit ihrer repetitiven
pattern-Struktur, Werken etwa von La Monte Young, Terry
Riley oder Philip Glass.
Kaum verwunderlich erscheint daher, daß sich
außerhalb Mitteleuropas in jüngerer Zeit vor
allem Amerikaner für Hauer zu interessieren begannen,
zunächst Cage, Tudor, Paik, und bald auch manche
jüngeren Kollegen. Von Ansätzen einer
Hauer-Renaissance in der Rezeptionsgeschichte der letzten
Jahre zu sprechen, wäre verfrüht. Doch haben auch
Zemlinsky, Schreker, ja selbst Mahler mehr als hundert Jahre
auf ihre Wiederentdeckung warten müssen. So bleibt zu
hoffen, daß die gesteigerten Aktivitäten des
Hauer-Jubiläumsjahres 1983 zu einer neuen
Auseinandersetzung mit seinem Werk provozieren.
[...]
1 Der Text stammt von Monika Lichtenfeld und wurde im
November 1983 veröffentlicht als »Josef Matthias
Hauer zum 100. Geburtstag« in Heft 8,
Veröffentlichungen der KGNM Kölner Gesellschaft
für neue Musik. Die vorliegende Fassung wurde leicht
überarbeitet.
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