Josef Matthias Hauer (1883-1959)

Klavierstücke mit Überschriften nach Worten von

Friedrich Hölderlin op. 25 (1923)

Im Bewußtsein der musikalischen Welt lebt Josef Matthias Hauer, ähnlich wie Erik Satie oder Edgard Varèse, als eine der originellen Außenseitergestalten der neuen Musik. Seine Kompositionen sind bis auf wenige selten aufgeführte Lieder und Klavierstücke weitgehend vergessen, seine Schriften und Manifeste meist nur vom Hörensagen bekannt. Wohl weiß man, daß Hauer schon einige Jahre früher als Schönberg ein autonomes und eigenwilliges Konzept der Zwölftonkomposition entworfen hat. Wohl wird sich mancher vielleicht noch erinnern an die erfolgreichen Uraufführungen seiner 7. Orchestersuite beim IGNM-Fest 1927 in Frankfurt am Main und seiner Hölderlin-Kantate Wandlungen beim Kammermusikfest in Baden-Baden 1928, die beide von Hermann Scherchen dirigiert wurden. Auch kann man heute aus wenigen, in den letzten drei Jahrzehnten publizierten Monographien und Studien ein detailliertes Bild von Hauers Persönlichkeit als Mensch und Künstler gewinnen. Doch sind die Konturen dieses Bildes immer noch seltsam undeutlich, verschwommen. Was Hauer an Kompositionen und Schriften nicht zu Lebzeiten veröffentlicht hat, ist größtenteils verschollen oder verliert sich im Dunkel verstreuter, geheimnisumwitterter Nachlaßhorte. Zeugnisse von Freunden und Zeitgenossen, oft widersprüchlich in Inhalt und Deutung, schwanken zwischen bedingungslos verehrender Schwärmerei und engstirnigem Unverständnis. Und als man 1966 bei den Wiener Festwochen Hauers Gotthelf-Oper Die schwarze Spinne zum erstenmal auf die Bühne brachte, da sprach man nicht primär von einer späten Huldigung Österreichs für einen großen Österreicher, vielmehr von einer abenteuerlichen Pioniertat.

Diese Wiener Opernpremiere blieb übrigens ebenso folgenlos wie eine Retrospektive Hauerscher Orchesterwerke, die der Steirische Herbst drei Jahre später zum 10. Todestag des Komponisten in Graz veranstaltete. Immerhin konnte man damals zum ersten Mal die Apokalyptische Fantasie op. 5 für Kammerorchester hören, eine seiner frühesten überlieferten Kompositionen. Sie war im Herbst 1913 entstanden und wurde, damals noch als dritte Symphonie bezeichnet, in einer Fassung für Klavier und Harmonium 1914 uraufgeführt. Hauer hat dieses merkwürdig schillernde, kosmische Endzeitvisionen suggerierende Stück in einem Aufsatz von 1926 als »mein eigentliches Sturm- und Drang-Werk« bezeichnet.

Daß Hauer mißachtet, übergangen, vergessen wurde, ist freilich nicht allein einer unverständigen Mit- und Nachwelt anzukreiden. Er selbst hat es sich und allen sachlich um die Erkenntnis seines Wesens und Wirkens Bemühten nicht leicht gemacht. Sein kompositorisches uvre weist keine epochemachenden Werke auf, sein Einfluß als Lehrer blieb gering. Anders als Schönberg hat Hauer nie regelrecht »Schule gemacht«. Wohl hatte er stets Schüler, oder besser gesagt: »Jünger« um sich versammelt, kaum jedoch Musiker, sondern vornehmlich Maler, Bildhauer, Architekten, Journalisten, Philosophen. Sein künstlerisches Außenseitertum, seine versponnene und zugleich hochambitionierte Musikphilosophie, nicht zuletzt seine schrullig-asketische Lebensführung, die ihn schon zu Lebzeiten mit dem Nimbus einer legendären Erscheinung umgaben, faszinierte die Schriftsteller unter den Zeitgenossen in besonderem Masse. Der Wiener Epiker Otto Stoessl, einer der treuesten Anhänger des Komponisten in seiner Frühzeit, gibt in seinem Roman Sonnenmelodie eine dichterisch sublimierte Lebensbeschreibung Hauers. Die Übungen der Kastalier in Hermann Hesses Glasperlenspiel scheinen weitgehend von Hauers Lehre inspiriert. Und Franz Werfel setzte ihm in seinem Verdi-Roman ein Denkmal in der Gestalt des fanatischen jungen Musikers Mathias Fischböck.

Auch Hauers theoretischem uvre, das seiner Substanz und seinem Umfang nach wohl am ehesten noch hätte schul- oder stilbildend wirken können, blieb eine nachhaltige Resonanz versagt - nicht zuletzt, weil seine Gedankengänge vielfach bizarr und logisch inkonsistent erscheinen, zuweilen mit schwerverdaulichem Ballast beladen und zudem keineswegs sprachgewandt formuliert sind. Dennoch haben manche seiner originellen, zukunftsweisenden Ideen erkennbare Spuren in der Geschichte der neuen Musik hinterlassen, zumal diese Ideen aus der Perspektive der musikalischen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten offensichtlich an Aktualität gewinnen. Hauers gewichtigste Werke aus den zwanziger Jahren üben mit der sanften Intensität ihres seltsam anachronistisch anmutenden Wohlklangs auch heute noch einen eigentümlich zwingenden Reiz aus, und in den Zwölftonspielen seiner Spätzeit sind manche Charaktere jener »meditativen« Musik vorweggenommen, die seit den siebziger Jahren - und nicht nur in der Avantgardeszene - weltweit an Popularität gewann.

Das Leben des Mannes, der 1959 verarmt und fast vergessen in einem Mietshaus der Wiener Josefstadt verstarb, war ähnlich wie das des gleichaltrigen Anton Webern in aller Stille und Abgeschiedenheit und in einem gänzlich unspektakulären Rahmen verlaufen. Hauer kam am 19. März 1883 in Wien Neustadt zur Welt und wurde wie so viele bedeutende Musiker seiner Heimat Lehrer. Während er in Krumbach und Wien Neustadt unterrichtete, ließ er sich als Organist, Cellist und Klavierspieler ausbilden, studierte Musiktheorie und Komposition, absolvierte noch Staatsprüfungen als Mittelschullehrer für Gesang, Violin- und Klavierspiel und begann als Achtundzwanzigjähriger zu komponieren. Seine frühen Werke, die Opera 1-18, entstanden zwischen 1912 und 1919, mit einer mehrjährigen, durch den Kriegsdienst bedingten Unterbrechung.

Diese Kompositionen - Lieder und Klavierstücke hauptsächlich, die Hauer später rückblickend als den »ersten Ansturm meiner Zwölftonmusik« bezeichnete - sind formal frei ausschwingende, miniaturförmige Gebilde von stark chromatischer Färbung. Zwölftönig im strengen Sinn sind sie ebensowenig wie Schönbergs und Weberns zeitlich parallel rangierende Stücke in freier Atonalität, mit denen sie die aphoristische Struktur und zuweilen auch den expressiven Gestus gemein haben. Schon in dieser frühen Phase zeichnet sich indes ein Prozeß ab, der Prinzipien von Hauers späterem Schaffen tendenziell vorausnimmt. Ein Vergleich der beiden Klavierzyklen

op. 3 von 1913 und op. 16 von 1919 mag diese Entwicklung verdeutlichen. Die Sieben kleinen Klavierstücke op. 3 knüpfen ebenso fraglos und selbstverständlich an der Tradition motivisch-thematischer Arbeit an wie Schönbergs op. 11, das Hauer damals gewiß noch nicht kannte. Die formalen Beziehungen sind deutlich ausgeprägt, Satztechnik und Ausdruck bilden eine unauflösliche Einheit. Manche Stücke dieser Serie wirken derart konzentriert in ihrer Substanz, daß fast jeder Ton motivisch legitimiert erscheint. Betrachtet man unmittelbar daneben die Nachklangstudien op. 16, so wird schon allein am Notenbild der Unterschied hinreichend deutlich. Kontrast und Vielgestaltigkeit der Charaktere artikulieren sich nicht mehr auf kleinstem Raum, sondern nur noch in der Abfolge der einzelnen Teile des Zyklus. In manchen Stücken wird auf eine profilierte Thematik im herkömmlichen Sinn ganz verzichtet zugunsten der Entfaltung reiner Bewegungsfiguren, und statt gegliederter Melodik dominiert jenes fließende Kontinuum, das Hauer als das »reine Melos« bezeichnete. Bemerkenswert erscheint, daß eine solche

Entwicklung, die - nach Rudolf Stephans Formulierung - »von der ausdrucksvollen Miniatur zur gewollten Einfachheit des Spielstücks führt«, sich bereits an diesen frühen Kompositionen nachweisen läßt, noch bevor Hauer seine Arbeit systematisch zu durchdenken begann und das Prinzip des ausdruckslosen, dynamisch, farblich und rhythmisch indifferenzierten Melos zum Hauptstück seiner Theorie erhob.

1915 war Hauer mit seiner Familie nach Wien übersiedelt. Die Metropole bot, neben dem Anreiz zu umfangreicherer musikalischer Betätigung, auch günstigere Möglichkeiten, sich als Komponist Gehör zu verschaffen und gleichgesinnte Freunde zu finden. Hauer lernte Peter Altenberg, Hermann Bahr, Karl Kraus, Adolf Loos und Johannes Itten kennen. Der Maler Erwin Lang, von dem einige der besten Hauer-Porträts stammen, vermittelte die Bekanntschaft mit der Juweliers- und Mäzenatenfamilie Köchert, die den Komponisten in Notzeiten großzügig unterstützte und heute noch viele seiner Manuskripte aufbewahrt. Wegen seiner angegriffenen Gesundheit wurde Hauer 1918 aus dem Militärdienst entlassen und 1919, nach kurzer Wiederaufnahme seiner Lehrtätigkeit, vorzeitig in den Ruhestand versetzt. Die erzwungene Schaffenspause während des Krieges forderte, ähnlich wie bei Schönberg, zur theoretischen Auseinandersetzung mit dem bisher Komponierten heraus. In enger Zusammenarbeit mit dem Philosophen Ferdinand Ebner, den Hauer während seiner Studienzeit kennengelernt hatte, entstand 1918 die Schrift Über die Klangfarbe, die 1920 in erweiterter Form unter dem Titel Vom Wesen des Musikalischen erschien. Der Sommer 1919 brachte eine weitere entscheidende Wende: Hauer entdeckte das »Gesetz der zwölf Töne« und begann, ihre Systematik zu erforschen. Kompositorisch wird die Wende durch op. 19 markiert; mit diesem programmatisch als Nomos (griechisch für Gesetz, Ordnung) betitelten Stück, einem der frühesten streng dodekaphonen Werke der Musikgeschichte, beginnt Hauers zweite Schaffensperiode, die bis op. 89 reicht und einen Zeitraum von zwanzig Jahren umfaßt.

Die theoretischen Arbeiten Hauers, der als Komponist zunächst wenig Resonanz fand, standen von nun an im Zentrum der Auseinandersetzung mit seiner Leistung. Neben den bereits genannten Broschüren publizierte Hauer 1923 seine Deutung des Melos, 1925 und 1926 zwei weitere Bändchen theoretischer Schriften mit den Titeln Vom Melos zur Pauke und Zwölftontechnik, daneben eine ganze Reihe von Aufsätzen, die vorwiegend in den seinerzeit führenden Zeitschriften für neue Musik Melos und Musikblätter des Anbruch erschienen. In all diesen Arbeiten - und das ist charakteristisch für Hauers Auffassung von seinem Künstlertum - ist nicht allein von Kompositionstheorie und Satztechnik die Rede, sondern immer auch vom gedanklichen Rahmen und den weltanschaulichen Bezügen des Systems.

Zentralbegriff der Hauerschen Musiktheorie ist »Melos«, zu dem »Rhythmus« als Gegenbegriff fungiert. Dem Melos ordnet er die atonale, dem Rhythmus die tonale Musik zu. Zwischen diesen beiden Polen, die er mit weiteren Begriffspaaren wie Geist und Instinkt, Mythos und Sprache, Intuition und Idealismus belegt, hat sich nach seiner Auffassung von jeher die Geschichte der Menschheit, nicht nur die der Musik bewegt. Beispielhaft sieht er den Dualismus in den Musikkulturen der Inder einerseits und der Chinesen andererseits verkörpert. So schreibt er 1922: »Das rhythmisch kultivierteste Volk der Erde sind die Inder, während die Chinesen die reinste Meloskultur seit Jahrtausenden besitzen. Indien ist, besonders für die Griechen, die Fundstätte für die Rhythmuskultur, von der Europa 'gebildet' wurde.« Die ganze abendländische Musik, die sich nach seiner Formulierung »unter der Abhängigkeit vom griechischen Sprachidealismus« entwickelt hat und folgerichtig in die, wie er meinte, Sackgasse der Tonalität geriet, lehnte Hauer ab. Zwar wollte er der Musik Bachs, Haydns, Mozarts und Beethovens keineswegs ihre Größe und Bedeutung absprechen, doch war er fest davon überzeugt, daß die Musik des 19. Jh., vor allem Wagners Opern, ein Verfallsprodukt, ein zwangsläufiger Irrweg ins Gewaltsame, Groteske und Mondäne sei. Demgegenüber glaubte er, im atonalen Melos das einzig Wahre und objektiv Seiende gefunden zu haben, »das Urgesetz des Musikalischen, an dem jede Musik der Erde, die vergangene, gegenwärtige und zukünftige gemessen werden kann.« Nur durch die Erkenntnis des atonalen Melos als der eigentlichen Basis aller Kultur, so meinte er, könne die Welt aus ihren Fehlentwicklungen gerettet werden.

Die letzte Konsequenz dieser Anschauung, die in den frühen Schriften durchgängig präsent ist und sich in der Zeit nach 1940 zum mystisch gefärbten Dogmatismus steigert, ist die Negation der Musik als Kunst und des Musikers als Künstler. Er selbst verstand seine Berufung durchaus nicht mehr im Sinne eines Komponisten traditioneller Prägung, vielmehr als die eines Hörenden, »der das Ewige im Wesen der Dinge vernimmt« und es innerhalb der strengen und einzig legitimen Spielregeln der Zwölftontechnik musikalisch zu deuten und zu realisieren vermag. »Die absolute Vollendung und Lösung der Musik, der Kunst aller Künste, ist das Ende der Kunst überhaupt«, schrieb er kurz nach dem zweiten Weltkrieg. War die Musik als Kunst für Hauer gestorben, so lebte sie weiter als Spiel. Lehrbar und lernbar als Zwölftonspiel, wie er fast alle seine nach 1939 entstandenen Kompositionen nannte, sollte sich die Musik nach seiner Prophezeiung spielend verbreiten. »Zwölftontechnik«, heißt es in einem seiner späteren Manifeste, »ist eine äußerst lehrreiche Spielerei für Gymnasiasten, Hochschüler, Universitätsprofessoren, Staatsmänner, die auf diesem allumfassenden Sprachboden lernen, ihre Spezialkenntnisse in das Große Ganze richtig einzubauen, einander zu verstehen, die Völker weise zu regieren.«

Die absichtsvolle Einfachheit der Spielmusik, die sich schon an manchem Frühwerk zeigt, ist für diese Zwölftonspiele nun durchgängig signifikant. Ihnen haftet in mancher Hinsicht etwas Anarchisches an, etwas von überzeitlichem Wesen. Sie wirken grenzenlos, weil Anfang und Ende ohne Notwendigkeit gesetzt sind, als hätte man aus einem permanenten Klangkontinuum beliebige Teile herausgeschnitten. Tempo und Dynamik zeichnen ein sanftes Mittelmaß vor, sind ad libitum-Zutaten wie die Instrumentation, der keinerlei koloristischer Charakter zukommt. Grundstruktur aller Zwölftonspiele ist der vierstimmige Satz, gewonnen aus den Ligaturen der Einzeltöne einer quasi ständig in sich rotierenden Reihe, beginnend und endend mit einem großen Septakkord, worin Hauer die vollkommene Verschränkung von Dur und Moll sah. Die kompositorische Arbeit beschränkt sich aufs Manipulieren, aufs Auswählen bestimmter Handgriffe und Prozeduren aus einem imaginären Katalog. Nicht mehr legt der Autor für ein bestimmtes Werk eigens neue Geleise, er stellt lediglich die Weichen. Solches Vorgehen hat mit Komponieren nach traditionellem abendländischem Verständnis kaum noch etwas gemein: es ist reines Spiel oder auch, wenn man so will, musikalische »Konzeptkunst«.

Zu einigen seiner schönsten, auch heute noch unvermindert lebendig und überzeugend anmutenden Kompositionen ließ Hauer sich von Dichtungen Hölderlins inspirieren. Ebner, der Freund der frühen Jahre, hatte ihn auf den Dichter hingewiesen und ihn auch manches Mal bei der Auswahl der Texte beraten. Die ersten Hölderlin-Vertonungen, fünf Lieder für eine Singstimme und Klavier op. 6, entstanden 1914; sie sind der gefeierten Wagner-Sängerin Anna Bahr-Mildenburg gewidmet. »Ich machte Hauer auf Hölderlin aufmerksam«, berichtet Ebner in seinen Lebenserinnerungen, »und er begann Hölderlinlieder zu komponieren. Viele Jahre später erklärte er mir einmal, einen anderen Dichter könne er für seine Kompositionen nicht brauchen.« In der Tat hat Hauer, bis auf wenige Ausnahmen, nur Hölderlin-Texte für seine Vokalwerke verwandt. Den ersten Liedern folgte das dreiteilige op. 12 im Winter 1914-1915 und in den frühen zwanziger Jahren vier weitere Liederzyklen auf Gedichte Hölderlins. Mit traditionellen Aspekten von Wortvertonung, von musikalischer Interpretation literarischer Substanz wird man Hauers Hölderlinliedern freilich kaum gerecht. Der Begriff des Liedhaften generell scheint hier problematisch, so sehr nähern sich diese Gebilde dem Rezitativ. Ihr Rhythmus folgt fast immer schematisch dem Textmetrum. »Ich schrieb die Texte einfach unter meine Musik«, bekannte Hauer später einmal im Gespräch mit Freunden, und dieser Ausspruch, wie überspitzt er auch wirkt, läßt sich an vielen seiner Vokalkompositionen verifizieren. Charakteristisch ist, daß die Musik den Text sozusagen unaufdringlich begleitet, ihn mit zarten Farben und ausdrucksvollen melodischen Bögen umspielt. Daher wirken auch gerade jene Passagen am gelungensten, bei denen - ohne greifbare kausale Verknüpfung - der unsinnlich schwebende Zauber der Musik mit dem schwelgerischen Duktus der Sprache gleichsam selbstverständlich parallel läuft.

Hauer apostrophierte Hölderlin gern als den vom Schicksal zum Dichter degradierten Musiker und hatte es sich, wie er 1926 schrieb, »zur Lebensaufgabe gestellt, Hölderlin auszuschöpfen.« Auch die Texte seiner großen, Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre entstandenen Kantaten Wandlungen, Vom Leben, Emilie vor ihrem Brauttag und Der Menschen Weg stammen von Hölderlin. Diese Kantaten, die Hauer auf dem Höhepunkt seiner schöpferischen Entwicklung wie seiner äußeren Karriere als Komponist geschrieben hat, gehören zu seinen bedeutendsten, melodisch reizvollsten Werken. Chorische und solistische Partien gehen darin nahtlos ineinander über, werden vielfach auch parallelgeführt. Der verhaltene, rezitativische Duktus dominiert; nur selten deuten extreme Tonlagen, rasche Bewegung und pointierte Dynamik stärkere emotionelle Emphase an. Die stufenreiche Melodik des Satzes steht dabei in auffälligem Kontrast zur »gewollten Monotonie« des Rhythmus und zum spröden, an die obligate Instrumentationsart des frühen 18. Jh. anknüpfenden Orchestersatz - einem Kontrast, der für das aggressions- und schnörkellose, allem Lärm und aller Buntheit abholde Klangbild von Hauers Partituren generell charakteristisch ist.

Neben diesen auf ihre Weise einzigartigen und im stilistischen Kontext ihrer Enstehungszeit isoliert dastehenden Werken wird man wohl Hauers Zwölftontheorie als einen nicht minder markanten Beitrag zur Geschichte der neuen Musik werten müssen. Die Theorie war es auch, die Schönberg am meisten an dem in gleicher Sache beschäftigten Kollegen interessierte. Bekannt ist, daß Hauer und Schönberg sich später, adjutiert von Schülern und Mitläufern, in einen Prioritätsstreit um die »Erfindung der Zwölftontechnik« verwickeln ließen - einen Streit, der heute, nach der Wiederentdeckung wesentlich älterer und ebenso autonomer Zwölftonverfahren etwa bei russischen Komponisten der Skrjabin-Schule, ohnehin müßig erscheint. An gutem Willen zur gegenseitigen Verständigung hatte es dabei anfangs keineswegs gefehlt. Hauer wandte sich schon 1913 mit der Bitte um Begutachtung seiner Arbeiten an Schönberg. Persönlich trafen die beiden Komponisten erstmals 1917 in Schönbergs Wiener Wohnung zusammen, wo Hauer aus eigenen Werken vorspielte und sich von Schönberg kritisch beraten ließ. 1919 wurden mehrere Kompositionen Hauers in Schönbergs Wiener Verein für musikalische Privataufführungen vorgetragen. Briefe Schönbergs von 1923 zeugen sogar von Plänen für ein gemeinsam zu verfassendes Buch, eine gemeinsame Schule oder eine publizistische Diskussion in Form von offenen Briefen. Danach scheint die Verbindung abgerissen zu sein. Spannungen und Mißtrauen steigerten sich allmählich. Hauer vor allem bestand nachdrücklich auf der Priorität seiner Entdeckung, zumal Schönbergs Zwölftontechnik als einzige einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde und seine Kompositionen beachtliche Resonanz fanden, während Hauers Theorien nur im Bewußtsein eines kleinen Kreises von Freunden und Bekannten lebten.

Dabei weisen Schönbergs und Hauers Methoden der Disposition des Zwölftonmaterials im einzelnen oft mehr Übereinstimmungen als Divergenzen auf. Für beide galt als verbindlich, daß jeder Komposition eine bestimmte Anordnung der zwölf Töne zugrunde liegen müsse. Hauer nannte diese Anordnung Konstellation oder Grundgestalt; beides bezeichnete bei ihm zunächst gleichermaßen melodisches wie harmonisches Arrangement der Töne. Schönberg übernahm von Hauer den Terminus Grundgestalt, verstand darunter jedoch lediglich die sukzessive Folge der Töne. Dafür wiederum hatte Hauer die Bezeichnung melischer Grundgedanke gewählt. Von den aus Schönbergs Verfahren geläufigen Spiegelformen der Reihe bevorzugte Hauer den Krebs. Die Transpositionen der Reihe und ihrer Verwandlungsformen waren für beide Komponisten geläufige Selbstverständlichkeit. Das Prinzip der Reihenteilung, das beim späten Schönberg und in der orthodoxen amerikanischen Zwölftonschule eine große Rolle spielte, hatte Hauer bereits 1926 in seiner Lehre von den Tropen entwickelt. Er bezifferte das Total aller Melosfälle, das heißt aller denkbaren Kombinationen der zwölf temperierten Halbtöne mit 479 001 600 und klassifizierte sie in einem System von 44 Grundtypen, die er Tropen nannte. Jede Trope gliedert sich in zwei Sechsergruppen, deren Inhalt nur dem Tonvorrat, nicht der Anordnung nach festgelegt ist. Es handelt sich bei den Tropen also weder um Melodiefiguren noch um Akkorde, vielmehr um Intervallkonstellationen, die harmonisch wie melodisch auskomponiert werden können. Und aus diesem Reservoir von Bauelementen hat Hauer jene stereotypen Tonsatzmodelle entwickelt, die die Werke seiner zweiten Schaffensperiode weitgehend bestimmen. Ihr eigentümlich formelhafter, anonymer Charakter - deutlich etwa im Violinkonzert, in den Orchestersuiten und Streichquartetten - erinnert mitunter auch an chronologisch benachbarte Werke der neoklassischen und neubarocken Stilrichtung.

Hauers Leistung, wie persönlichkeitsbezogen und begrenzt in ihrer Wirkung sie auch immer sei, bedarf keiner Rehabilitierung. Auf Analogien zwischen seinen Konzeptionen und gewissen Entwicklungszügen der neuen Musik nach 1945 ist bereits hingewiesen worden. In seiner Zwölftontechnik jedenfalls treten Ansätze einer Auffassung zutage, die Komposition nicht als Alleingang individueller Inspiration, sondern als klingenden Reflex einer umfassenden, objektiven Materialordnung begreift. Solange freilich in der Avantgardeszene der überkommene europäische Kunstwerk- und Geniebegriff dominierte, hatte Hauers uvre kaum eine Chance. Der subjektive Tonfall, der geniale Schnörkel, das Zurschaustellen des eigenen Seelenlebens waren ihm stets verhaßt. Und ebenso deutlich distanzierte er sich von der Vorstellung, daß eine Komposition nur durch Gestaltenvielfalt, Ausdrucks- und Kontrastreichtum legitimiert sei - oder, wie Adorno es formulierte, nur durch die Konfiguration des Verschiedenen gerate. Viel eher nimmt Hauers Denken manche Züge der Ästhetik John Cages vorweg, einer Ästhetik, die Musik als von persönlichen Entscheidungen und individuellen Vorlieben möglichst freigehaltene, quasi anonyme Veranstaltung begreift. Nicht von ungefähr haben Hauer wie Cage ihre Musik häufig mit Hilfe von Zufallsoperationen etwa nach dem chinesischen I Ching erstellt. Und noch verblüffendere Parallelen findet man zwischen manchen Zwölftonspielen Hauers und amerikanischer minimal music mit ihrer repetitiven pattern-Struktur, Werken etwa von La Monte Young, Terry Riley oder Philip Glass.

Kaum verwunderlich erscheint daher, daß sich außerhalb Mitteleuropas in jüngerer Zeit vor allem Amerikaner für Hauer zu interessieren begannen, zunächst Cage, Tudor, Paik, und bald auch manche jüngeren Kollegen. Von Ansätzen einer Hauer-Renaissance in der Rezeptionsgeschichte der letzten Jahre zu sprechen, wäre verfrüht. Doch haben auch Zemlinsky, Schreker, ja selbst Mahler mehr als hundert Jahre auf ihre Wiederentdeckung warten müssen. So bleibt zu hoffen, daß die gesteigerten Aktivitäten des Hauer-Jubiläumsjahres 1983 zu einer neuen Auseinandersetzung mit seinem Werk provozieren. [...]

1 Der Text stammt von Monika Lichtenfeld und wurde im November 1983 veröffentlicht als »Josef Matthias Hauer zum 100. Geburtstag« in Heft 8, Veröffentlichungen der KGNM Kölner Gesellschaft für neue Musik. Die vorliegende Fassung wurde leicht überarbeitet.