text copyright Herbert Henck
Charles Edward Ives (1874-1954)

Piano Sonata No. 2: »Concord, Mass.,
1840-1860«
I. »Emerson«, II. »Hawthorne«, III.
»The Alcotts.«,
IV. »Thoreau« (1909-1915)
Charles Edward Ives (1874-1954) gilt heute als einer
der wichtigsten Begründer der Neuen Musik Amerikas und
als einer der hervorragendsten experimentellen Künstler
seiner Zeit. Obwohl seine Wirkung erst nachhaltig einsetzte,
nachdem er sich bereits von der kompositorischen Produktion
zurückgezogen hatte, ist das Musikdenken Amerikas
schwer ohne ihn vorstellbar, selbst wenn der Kreis derer,
die seine Werke - öfters aus Noten und Manuskripten
denn aus Aufführungen - kennenlernten, jahrzehntelang
verschwindend gering war gemessen an der posthum erfahrenen,
durchaus von Zügen des Nationalstolzes begleiteten
Popularität. Besonders die enge Nachbarschaft von Ives'
100. Geburtstag und dem 200. Geburtstag der Nation zeitigte
Mitte der siebziger Jahre für sein Werk und Andenken
einen ungeheuren Aufschwung, der sich in zahlreichen
Schallplatteneinspielungen, Buchpublikationen,
Rundfunksendungen, Artikeln in Fachzeitschriften und
Tagespresse, Konferenzen und nicht zuletzt Gedenkkonzerten
ausdrückte.
Doch bei aller Freude über vieles hierbei erstmals
zutage Geförderte an Stücken und Dokumenten
läßt sich gleichwohl nicht übersehen,
daß all solch späte Ehrung mit zur Tragik des
Bejubelten gehört, der ein Leben lang unter der
Ignoranz und Intoleranz seiner Zeitgenossen gelitten hatte
und der schon früh hatte erkennen müssen,
daß sein Verdienst aus kompositorischer Arbeit
für seinen Unterhalt kaum je ausreichen werde. Ives'
gelegentlich schon anzutreffende Stilisierung zum
Nationalhelden, die seinem Zitieren der Volkssphäre
mittels bekannter amerikanischer Melodien oder der
Verwendung beliebter Besetzungen sich eher verdanken
dürfte als seiner erst spät erkannten
künstlerischen Originalität und seinem politisch
weit weniger verwertbaren, rigorosen Freiheitsdenken, das
nicht bei der Musik verweilen, sondern in Politik und Moral
sich einmischen wollte - diese Stilisierung und
Vereinnahmung droht freilich als zweite, posthume Tragik
sein Lebenswerk zu überschatten.
Ives wurde am 20. Oktober 1874 in Danbury, im Staate
Connecticut der USA, geboren. Seine erste musikalische
Ausbildung erhielt er von seinem Vater, George Edward Ives,
der sich selbst mit zahlreichen musikalischen Experimenten
befaßte, ohne jedoch größeren
kompositorischen Ehrgeiz zu entwickeln. Es war der Geist der
Ungezwungenheit, der Unverkrampftheit, der Unverdorbenheit -
man mag auch von Naivität sprechen - gegenüber dem
Klanglichen, musikalisch überhaupt Erfahrbaren, und
eine Freude am Neuen, Unvorhersehbaren, die von Lebensfreude
sich nährte, die vielleicht das wichtigste
künstlerische Vermächtnis des Elternhauses sein
sollten; ein Vermächtnis, das, wie anders kaum zu
erwarten, im
Verfahren eines Musikstudiums zu häufigem Konflikt mit
der überlieferten Lehre führte. Es war Horatio
Parker, einem Schüler Joseph von Rheinbergers und Erben
deutschromantischer Tradition,
vorbehalten, Ives im Laufe seines Studiums an der Yale
University (1894 bis 1898) in dieses Maß- und
Räderwerk der Vergangenheit einzuweisen, eine Aufgabe,
derer er sich so ernst wie erfolglos entledigte.
Noch in seiner Studienzeit nahm Ives 1898 eine Stellung in
einem Lebensversicherungsunternehmen an. 1909 gründete
er mit Julian Myrick, einem befreundeten Kollegen, eine
eigene Firma (Ives & Myrick) in New York, die sich bald
an die Spitze der Branche vorarbeitete. Ives verfaßte
mehrere kleine Schriften zum Versicherungswesen, darunter
den Aufsatz The Amount to Carry (1920), der noch heute zur
Standardlektüre der Versicherungsagenten zählen
soll.
In all diesen Jahren seines Geschäftslebens komponierte
Ives - für die Schublade zumeist -, ständig neue
Stücke beginnend und auf Reinschriften der älteren
verzichtend, kaum je um Aufführungen sich
bemühend. Ein riesenhaftes Korpus von Manuskripten mit
Hunderten von Querverweisen, Notizen, Marginalien,
Streichungen und Korrekturen häufte sich an. Erst ein
schwerer Herzanfall im Jahre 1918, der mehrfach mit dem
Eintritt Amerikas in den Ersten Weltkrieg in Zusammenhang
gebracht wurde, der aber vermutlich ebenso von der immensen
Doppelbelastung durch Geschäft und Komposition
herrührte, zwang ihn zu einjährigem Ausscheiden
aus dem Beruf.
Zugleich erschütterte ihn dieser körperliche
Zusammenbruch so stark, daß er begann, seine Werke wie
eine Hinterlassenschaft zu sichten, das Wichtigste
auszusondern und aus privaten Mitteln drucken zu lassen.
Dies waren seine Essays Before a Sonata und die mit ihnen
zusarnmenhängende Concord Sonata (beide 1920 gedruckt)
sowie eine Sammlung seiner Lieder unter dem Titel 114 Songs
(1922), die ebenfalls von einem längeren
philosophischen Essay, dem Postface to 114 Songs, begleitet
wurde.
1930 zog er sich völlig aus dem Geschäftsleben
zurück, da seine Gesundheit starken Schwankungen
unterlag, und in das Ende der zwanziger Jahre fällt
auch die gänzliche Einstellung neuer kompositorischer
Projekte, die bereits in der zeitlichen Nähe seines
körperlichen Zusammenbruchs stagniert hatten. Ein Lied
mit dem Titel Sunrise, das er im August 1926 vollendete, ist
seine letzte abgeschlossene Komposition, nach der nur noch
Entwürfe - wie die zu einer dritten Klaviersonate
(1926/1927) oder zu der sogenannten Universe Symphony (bis
1928) - folgen, letztere freilich eines seiner kühnsten
Konzepte überhaupt.
Erst in den dreißiger Jahren regte sich durch die
unnachgiebige Vermittlung einiger Freunde (Henry Cowell,
Nicolas Slonimsky, Aaron Copland) vermehrt das Interesse an
Ives' Musik, und es kam auch zu ersten Aufführungen in
Übersee (1932 in Paris, Berlin und Budapest). Im selben
Jahr schrieb Ives unter dem Titel Memos seine musikalischen
Erinnerungen, in denen er auf viele Fragen über die
Entstehung und Bedeutung seiner Werke einging und die in
ihrer Art als Dokument einzig dastehen (New York 1972,
London 1973, deutsche Übersetzung: Zürich
1985).
Ausgedehnte Reisen füllten über ein Jahr in dieser
Zeit wachsender Bekanntheit, und Ende der dreißiger
Jahre fand jene legendäre Aufführung seiner
Concord Sonata in New York durch John Kirkpatrick statt, die
Lawrence Gilman im New York Herald Tribune (21. Januar 1939)
die bedeutendste von einem Amerikaner komponierte Musik
nannte und die Ives' Musik zum endgültigen Durchbruch
verhalf.
Von dieser Zeit an begann sich Ives' Musik mehr und mehr im
Konzertleben durchzusetzen, und 1947 wurde ihm der begehrte
Pulitzer Prize für seine Dritte Symphonie zugesprochen.
Diese hatte seinerzeit bereits Gustav Mahler in Wien zur
Aufführung bringen wollen, nachdem er sie zufällig
bei Ives' Kopist in New York gesehen und mit sich nach
Europa genommen hatte (1911). Da Mahler jedoch starb und das
in seinem Besitz befindliche Manuskript seither verschollen
ist, mußte die Symphonie rekonstruiert werden und kam
so erst zweiundvierzig Jahre nach ihrer Entstehung (1904)
durch Lou Harrison zu Gehör.
Ende der vierziger Jahre begannen Henry und Sidney Cowell,
die der Ives-Familie seit langem schon freundschaftlich
verbunden waren, mit ihrer Biographie über Charles
Ives, die aber erst nach seinem Tod (19. Mai 1954)
veröffentlicht werden konnte.
Piano Sonata No. 2: »Concord, Mass.,
1840-1860«
»Concord, Mass., 1840-1860«, so der Untertitel von
Charles Ives' zweiter Klaviersonate, das sind das
Städtchen Concord im Staate Massachusetts der USA und
jener Zeitraum, in dem Concord zum Sammelpunkt einer
Bewegung wurde, deren Einfluß auf das amerikanische
Geistesleben bis heute anhält und die gewöhnlich
als »Transzendentalismus« bezeichnet wird. Der
Name überbewertet die Beziehung zur
Transzendentalphilosophie des deutschen Idealismus (Kant,
Fichte, Schelling, Schleiermacher), war diese doch neben dem
Protestantismus, der europäischen Romantik, indischer
Philosophie und Fouriers utopischem Sozialismus nur eine der
zahlreichen, hier sich vereinigenden Strömungen. Im
Kampf gegen ein Überhandnehmen von Rationalismus und
Empirismus betonte der gleichermaßen
mystisch-philosophische wie
gesellschaftskritisch-aufklärerische
Transzendentalismus die Eigenverantwortlichkeit des
einzelnen - sei es gegenüber Gott angesichts
kirchlicher Dogmatik, sei es gegenüber der Natur
angesichts ihrer skrupellosen »Erschlieszung«, sei
es gegenüber dem Nächsten angesichts legitimierter
Sklaverei, jener der Farbigen auf den Plantagen des
Südens wie jener der weißen Fabrikarbeiter
Neuenglands. Besonderes Gewicht erhielten in unserem
Jahrhundert Henry David Thoreaus Ideen vom aktiven und
passiven Widerstand gegen die Staatsgewalt, auf die sich
Mahatma Ghandi und Martin Luther King ebenso berufen haben
wie der Widerstand gegen Hitler im besetzten Frankreich,
Holland und Dänemark oder die Friedensbewegung der
achtziger Jahre. Auch die Bewegung jener
obrigkeitsfeindlichen Jugend, die den Ausbruch aus der
Industriegesellschaft, alternative Lebensformen oder
Konsumverzicht propagierte, besann sich immer wieder auf
Thoreaus Ideen und Vorbild, so daß Elemente des
Transzendentalismus nicht nur in den sechziger Jahren in die
Studentenbewegung oder die Subkultur der Hippies eingingen,
sondern sich gleichermaßen bei Jack Kerouac und Allen
Ginsberg, den Protagonisten der »Beat Generation«,
in den fünfziger Jahren nachweisen lassen.
Kopf des Transzendentalistenkreises, dem zugleich der Beginn
der nationalamerikanischen Philosophie und Literatur zu
verdanken ist, war der vormalige Bostoner Pfarrer Ralph
Waldo Emerson (1803 bis 1882), der in seiner
programmatischen Schrift Nature (1836) seine Leser
ermutigte, zu Natur und Kultur einen unmittelbaren, nicht
durch Tradition verstellten Zugang wiederzuerlangen.
Beeinflußt von Swedenborgs Korrespondenzlehre sah er
in der Natur eine erlösende, nur individuell erfahrbare
Manifestation der oversoul
[Überseele] und verhieß, daß ein
wachsendes Verständnis für den Symbolcharakter der
Natur gleichermaßen in die Offenbarung Gottes wie in
Selbsterkenntnis münde. Neben Emerson zählten zu
dem engeren Kreis der Transzendentalisten besonders der
Schriftsteller Nathaniel Hawthorne (1804-1864), der
Reformpädagoge und Philosoph Bronson Alcott
(1799-1888), die Schriftstellerin und Journalistin Margaret
Fuller (1810-1850) sowie der Dichter und Essayist Henry
David Thoreau (1817-1862), der gleich Emerson ein Tagebuch
von gigantischem Ausmaß hinterließ und dessen
später berühmtes Buch Walden (1854) die
Erfahrungen eines zweijährigen Einsiedlerexperimentes
zusammenfaßte. Zum weiteren Einflußbereich und
Freundeskreis gehörten vor allem William Ellery
Channing, Hermann Melville (der seinen Moby Dick Hawthorne
widmete), Emersons langjähriger Korrespondent Thomas
Carlyle, Walt Whitman, Louisa May Alcott, die Tochter
Bronson Alcotts und Autorin des weitverbreiteten
Kinderbuches Little Women (1868), und Henry James, dem
Hawthorne selbst im Alter noch literarisches Vorbild war. In
Europa war es Friedrich Nietzsche, der sehr früh
Gedanken Emersons aufgriff und die Meisterschaft seiner
Prosa pries.
Charles Ives, dessen Großeltern den
Transzendentalisten zugehörten und bei denen laut
Familienüberlieferung Emerson einst zu Gast gewesen
war, war mit Lehre wie Literatur des Transzendentalismus von
Kindheit an vertraut, teilte viele seiner Ideale und
versuchte, sie als Geschäftsmann wie Komponist,
öffentlich wie privat zu verwirklichen.
Künstlerisch, politisch, moralisch, philosophisch war
dies seine geistige Heimat, mit deren Erbe er sich
musikalisch wie essayistisch ein Leben lang
auseinandersetzte. Vermutlich regte Emerson mit seiner
Sammlung Representative Men (1850) Ives auch an, bald nach
der Jahrhundertwende den Plan für eine Reihe von
Orchesterouvertüren zu entwickeln, die unter dem Titel
Men of Literature Schriftsteller portraitieren sollten:
Emerson, Robert Browning, Walt Whitman, Matthew Arnold, John
Greenleaf Whittier und Henry Ward Beecher. Diesen Plan
führte Ives jedoch nur ansatzweise aus und beendete
einzig die Robert Browning Overture (1908-1912).
Die in diesem Rahmen 1907 begonnene Emerson Ouverture
beruhte auf einem früher entstandenen Männerchor
mit Orchesterbegleitung, doch formte Ives sie alsbald zu
einer Art Klavierkonzert um, in dem das Orchester die Welt
und das lauschende Volk verkörperte, während das
Soloklavier den predigenden, lehrenden Emerson durch
»zentrifugale« Kadenzen repräsentierte (eine
Überdosis an Kadenzen, wie Ives später monierte).
Der Übergang zum Soloklavierstück, zu dem Ives das
viersätzig angelegte Konzert schließlich
verschmolz, war damit ebenso vorbereitet wie der
Übergang zum Kopfsatz Emerson jenes nur behelfsweise
»Sonate« titulierten Klavierwerkes, das Ives den
Transzendentalisten zum Gedenken schrieb und das als Concord
Sonata nicht allein in Ives' Schaffen, sondern in der
Klavierliteratur einen Höhepunkt bildet.
Die orchestralen Teile, aus denen eine kurze
Bratschenbegleitung (ad libitum) selbst in der Klaviersonate
noch überlebt, reduzierte Ives zu einem dichten,
polyphonen, klavierauszug-ähnlichen Satz, dessen
musikalische Genese und Syntax er in enger Beziehung zu
Emersons improvisatorischer, oft sprunghafter Rhetorik
sah.
Das Verfahren Emersons, seine überaus häufigen
öffentlichen Reden ohne ein starres Konzept zu halten
und nur auf eine Vielzahl verzettelter Notizen zu
stützen, um so seine Argumentation nach Bedarf auf
aktuelle Anlässe und Zusammensetzung seines Publikums
abstimmen zu können, mag Ives' Kompositionstechnik zwar
nicht unmittelbar beeinflußt haben, doch war ihm diese
Methode durchaus bekannt und zumindest wohl Bestätigung
seiner eigenen, auf ständige Entwicklung, Verwandlung,
Erweiterung und Konzentration bedachten Arbeitsweise an
dieser Sonate.
Gerade im Falle der Concord Sonata ist Ives' suchender
Umgang mit den musikalischen Gestalten, sein Abtasten von
Themen und Formen eher ein allmähliches Erspüren
der Fliehkräfte seines Materials und nicht zu
verwechseln mit den Korrekturen und Revisionen anderer
Komponisten, die - oft auf Grund aufführungspraktischer
Erfahrungen (die Ives fast völlig versagt waren) -
einem Werk zu definitiver Gestalt und Reife verhelfen.
Für Ives bedeutete es auch keinen Widerspruch, sich
selbst nach der Veröffendichung der Sonate weiter mit
ihr zu beschäftigen und neue Varianten zu erfinden,
solchermaßen auf Abgeschlossenheit verzichtend,
zugleich aber den Fluß des Geistes in einer Weise
aufrechterhaltend, die ihm von der Thematik des Werkes her
geboten schien.
Doch wollte Ives diese schöpferische Freiheit, die ihm
so viel bedeutete, nicht auf sich allein beschränkt
wissen; auch der Interpret sollte am Schaffensprozeß
teilhaben können, sollte die ungewöhnliche
Möglichkeit erhalten, das Notierte stets etwas anders
auszulegen und all jene Varianten und Lesarten in die
Interpretation einzubringen, die sich über Jahrzehnte
hinweg angesammelt hatten. Der Spielraum, der sich aus
dieser in der Musikgeschichte bis dahin vermutlich
einmaligen Interpolierbarkeit der Fassungen ergibt,
läßt sich allerdings nur voll ermessen, bedenkt
man, daß Ives neben zwei gedruckten Ausgaben der
Sonate (1920 und 1947) mindestens vierzehn
»korrigierte« Versionen aus der Zeit zwischen den
beiden Drucken sowie zusätzliche Änderungen nach
der zweiten Ausgabe hinterließ, die alle
zusammengenommen eigentlich erst die Concord Sonata
ausmachen.
Da jedoch, abgesehen von den gedruckten Ausgaben, die
große Mehrheit dieses Materials unveröffentlicht
oder schwer zugänglich ist, blieb solche
Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Fassungen
einstweilen noch Utopie - Utopie wie Ives' Vorstellung, ein
Interpret könne, gleich ihm mit seinen Four
Transcriptions from 'Emerson' für Klavier solo (ca.
1917-1922), bestimmte Aspekte des Werkes improvisatorisch
weiterführen.
Diese Vorstellung, die die Grenzen auch avancierten
Interpretentums verkennt, ist der Thematik der Sonate
vielleicht aber nur bedingt angemessen, da ein
»Improvisieren über« zwar einerseits vom
Notentext entbindet und zu einer virtuellen Öffnung des
Werkes wird, andererseits aber der zeitliche Abstand, der
uns von der Sonate inzwischen trennt, so groß geworden
ist, daß eine solche Improvisation fast notwendig zur
Stilkopie und Stilübung, wenn nicht gar zu einem
»Improvisieren à la« würde, solange
der Improvisator seinen eigenen Stil zurückstellt. Tut
er dies allerdings nicht, wäre die Folge ein Changieren
zweier musikalischer Stile, das der Sonate eine überaus
simple, hoquetusartige Form überstülpen
würde. Um beides kann es Ives nicht gegangen sein,
dessen Gefühl für Originalität und
Individualität bei weitem zu emphatisch war, als
daß er in dieser Art Zweiter-Hand-Improvisation
letztlich mehr als eine Brücke zu wirklichem
Schöpfertum hätte sehen können.
Ives war im übrigen unsicher, ob er einzelne, am
Klavier extemporierte Entwicklungen der Sonate
überhaupt aufzeichnen solle, da ihm dies »das
tägliche Vergnügen« nehme, »diese Musik
immer wieder von neuem zu spielen, sie heranwachsen zu sehen
und zu spüren, daß sie noch unvollendet
ist«, ein Vergnügen, das ihm sonst kein anderes
Werk zu bieten imstande war. Und im selben Memo von 1933
fährt er fort: »Ich möchte das andauernde
Vergnügen haben, sie [die Sonate] nicht zu
vollenden, und ich genieße die Hoffnung, daß sie
nie vollendet sein wird [...].«
Um die Wandlungen jedoch noch unmittelbarer als durch
schriftliche Aufzeichnung möglich festzuhalten, plante
Ives eine nicht zur Veröffendichung, sondern zu seiner
»eigenen Genugtuung und zu Studienzwecken«
bestimmte Schallplattenaufnahme, bei der er jeden Satz in
zwei oder drei Fassungen spielen wollte. Hieran knüpfte
er die Zuversicht, »Henry Cowell, Nicolas Slonimsky
oder irgendein anderes akustisches Genie« werde die
Aufnahme später transkribieren können. Die
Tonaufnahmen, die dann im Juni 1933 bei der Lon- doner
»Columbia Graphophone Company« stattfanden,
ernüchterten den studiounerfahrenen und verzeihlich
nervösen Ives jedoch stark, und er beklagte den Tod der
in die Maschinerie geratenen Musik heftig.
Um auf die verschiedenen Versionen der Sonate und ihre
grundsätzliche Gleichberechtigung aber ein letztesmal
zurückzukommen, so wird erkennbar, daß sich mit
diesem Werk wie keinem zweiten eine säkulare
editorische Aufgabe stellt, an deren Bewältigung sich
einst der Eigenanspruch amerikanischer Textkritik und
amerikanischen Verlegertums wie beider Stellung zwischen
Kunst und Kommerz exzellent wird ablesen lassen.
Die Vorgeschichte der Sätze Hawthorne, The Alcotts und
Thoreau ist nicht ganz so vielschichtig und verschlungen wie
die von Emerson, soll hier aber gleichfalls nur angedeutet
werden. Hawthorne geht einerseits auf drei anfänglich
für zwei Klaviere und möglicherweise vier
Pianisten konzipierte Stücke nach Erzählungen
Haw-
thornes zurück, andererseits hängt der Satz mit
einem Hawthorne Concerto für Klavier und Orchester
(1910) zusammen.
The Alcotts beruht teilweise auf einer Orchard House
Overture für Orchester (1904), und in Thoreau fanden
Abschnitte aus dem langsamen Satz eines Streichquartettes
aus dem Jahre 1905 Eingang, während andere Partien von
»Walden-Klängen« inspiriert wurden,
Klängen aus der Umgebung von Walden Pond, wo Thoreau
zurückgezogen gelebt hatte: Kirchenglocken vom nahen
Concord, Flöte, die Thoreau selbst spielte, und
Äolsharfe, zu der für Thoreau die Drähte der
neuen Telegraphenleitung wurden, in denen der Wind sang.
Fast alle diese Vorstufen wurden entweder nicht
fertiggestellt oder gingen bis auf wenige Skizzen
verloren.
Die Absichten, die er mit dieser Sonate verfolgte,
formulierte Ives abrißartig zu Beginn seiner Essays
Before a Sonata [Essays vor einer Sonate] (1919),
die er nur aus praktischen Gründen nicht in einem Band
mit den Noten zusammenfaßte und deren beider
Druckkosten er selbst trug. »Das Ganze stellt den
Versuch dar, den Eindruck (einer Person) vom
transzendentalistischen Geist wiederzugeben. [...]
Dies geschieht durch großflächige Darstellungen
von Emerson und Thoreau, eine Skizze der Alcotts und ein
Scherzo, welches die leichtere Geistesart wiedergeben soll,
die einen Teil der Phantastik bei Hawthorne
kennzeichnet.«
Und besorgt, man könne sein Werk vorschnell der
Programm-Musik zurechnen, wehrt er ab: »Die
Ecksätze wollen nicht programmatische Darstellungen des
Lebens oder bestimmter Werke Emersons und Thoreaus, sondern
lediglich zusammengesetzte Bilder oder Eindrücke davon
sein.« Ansonsten kommt Ives auf die Sonate in den
Essays nur selten zurück, und philosophische,
historische und musikästhetische Betrachtungen stehen
im Vordergrund.
Im Epilog, dem umfangreichsten Essay, entwickelt er unter
anderem eine etwas vage dualistische Theorie von substance
[Substanz] und manner [Ausdrucksweise], die
für sein Kunstverständnis insgesamt zentrale
Bedeutung hat. Aufschluß geben die Essays auch
über jenes Beethoven-Zitat - das Hauptmotiv der
fünften Symphonie -, das alle Sätze der Sonate von
der ersten bis zur letzten Zeile durchzieht und das sich in
schöner Dreideutigkeit gleichermaßen als Beginn
der Choräle Missionary Chant von Heinrich C. Zeuner
(1795-1857) wie Martyn von Simeon B. March verstehen
läßt.
»ln jenen vier Noten ist eine der größten
Botschaften Beethovens enthalten, schreibt Ives und
versucht, ihr Orakel dahingehend zu deuten, daß sie
als Seele der Menschheit an die Tür der göttlichen
Geheimnisse pochten, unerschütterlich im Glauben,
daß sie einstmal geöffnet werden wird - und
daß das Menschliche und Göttliche eins
werden!«
Neben diesem Beethoven-Zitat, das zugleich eine Hommage an
die Kunstmusik Europas ist, durchwirken wie in vielen
anderen Werken Ives' zahlreiche Zitate amerikanischer Musik
diese Sonate, besonders sinnfällig im zweiten Satz, wo
sich Bruchstück von Ragtimes, Marschmusiken und
Chorälen in unnachahmlicher Weise reihen.
Nichts scheint dieser Musik unmöglich, kein Gegensatz
zu groß: Schärfste Dissonanz folgt nahtlos
nostalgischem Wohllaut, Poetisch-Lyrisches Trivialem,
Chaotisches Entrücktem - Musik voller
Widersprüche, die sich selbst ins Wort fällt, doch
nie ins Banale abgleitet. Und vielleicht ist dies die
eigentliche Kraft von Ives, im Einbezug und Belassen des
scheinbar Unvereinbaren ein »wahreres« Bild dieser
Welt zu entwerfen, als dies einer »exklusiven«
Kompositionstechnik möglich wäre, eine Kraft, die
sich Spieler und Hörer mitzuteilen vermag und die die
Spannung seiner Musik ausmacht.1
1 Herbert Henck, Experimentelle Pianistik - Improvisation.
Interpretation. Komposition, Schott , Mainz etc., 1994
[Die Fußnoten des Originals wurden hier
ausgespart]
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