text copyright Herbert Henck

 

 

Charles Edward Ives (1874-1954)

Piano Sonata No. 2: »Concord, Mass., 1840-1860«

I. »Emerson«, II. »Hawthorne«, III. »The Alcotts.«,

IV. »Thoreau« (1909-1915)

Charles Edward Ives (1874-1954) gilt heute als einer der wichtigsten Begründer der Neuen Musik Amerikas und als einer der hervorragendsten experimentellen Künstler seiner Zeit. Obwohl seine Wirkung erst nachhaltig einsetzte, nachdem er sich bereits von der kompositorischen Produktion zurückgezogen hatte, ist das Musikdenken Amerikas schwer ohne ihn vorstellbar, selbst wenn der Kreis derer, die seine Werke - öfters aus Noten und Manuskripten denn aus Aufführungen - kennenlernten, jahrzehntelang verschwindend gering war gemessen an der posthum erfahrenen, durchaus von Zügen des Nationalstolzes begleiteten Popularität. Besonders die enge Nachbarschaft von Ives' 100. Geburtstag und dem 200. Geburtstag der Nation zeitigte Mitte der siebziger Jahre für sein Werk und Andenken einen ungeheuren Aufschwung, der sich in zahlreichen Schallplatteneinspielungen, Buchpublikationen, Rundfunksendungen, Artikeln in Fachzeitschriften und Tagespresse, Konferenzen und nicht zuletzt Gedenkkonzerten ausdrückte.

Doch bei aller Freude über vieles hierbei erstmals zutage Geförderte an Stücken und Dokumenten läßt sich gleichwohl nicht übersehen, daß all solch späte Ehrung mit zur Tragik des Bejubelten gehört, der ein Leben lang unter der Ignoranz und Intoleranz seiner Zeitgenossen gelitten hatte und der schon früh hatte erkennen müssen, daß sein Verdienst aus kompositorischer Arbeit für seinen Unterhalt kaum je ausreichen werde. Ives' gelegentlich schon anzutreffende Stilisierung zum Nationalhelden, die seinem Zitieren der Volkssphäre mittels bekannter amerikanischer Melodien oder der Verwendung beliebter Besetzungen sich eher verdanken dürfte als seiner erst spät erkannten künstlerischen Originalität und seinem politisch weit weniger verwertbaren, rigorosen Freiheitsdenken, das nicht bei der Musik verweilen, sondern in Politik und Moral sich einmischen wollte - diese Stilisierung und Vereinnahmung droht freilich als zweite, posthume Tragik sein Lebenswerk zu überschatten.

Ives wurde am 20. Oktober 1874 in Danbury, im Staate Connecticut der USA, geboren. Seine erste musikalische Ausbildung erhielt er von seinem Vater, George Edward Ives, der sich selbst mit zahlreichen musikalischen Experimenten befaßte, ohne jedoch größeren kompositorischen Ehrgeiz zu entwickeln. Es war der Geist der Ungezwungenheit, der Unverkrampftheit, der Unverdorbenheit - man mag auch von Naivität sprechen - gegenüber dem Klanglichen, musikalisch überhaupt Erfahrbaren, und eine Freude am Neuen, Unvorhersehbaren, die von Lebensfreude sich nährte, die vielleicht das wichtigste künstlerische Vermächtnis des Elternhauses sein sollten; ein Vermächtnis, das, wie anders kaum zu erwarten, im

Verfahren eines Musikstudiums zu häufigem Konflikt mit der überlieferten Lehre führte. Es war Horatio Parker, einem Schüler Joseph von Rheinbergers und Erben deutschromantischer Tradition,

vorbehalten, Ives im Laufe seines Studiums an der Yale University (1894 bis 1898) in dieses Maß- und Räderwerk der Vergangenheit einzuweisen, eine Aufgabe, derer er sich so ernst wie erfolglos entledigte.

Noch in seiner Studienzeit nahm Ives 1898 eine Stellung in einem Lebensversicherungsunternehmen an. 1909 gründete er mit Julian Myrick, einem befreundeten Kollegen, eine eigene Firma (Ives & Myrick) in New York, die sich bald an die Spitze der Branche vorarbeitete. Ives verfaßte mehrere kleine Schriften zum Versicherungswesen, darunter den Aufsatz The Amount to Carry (1920), der noch heute zur Standardlektüre der Versicherungsagenten zählen soll.

In all diesen Jahren seines Geschäftslebens komponierte Ives - für die Schublade zumeist -, ständig neue Stücke beginnend und auf Reinschriften der älteren verzichtend, kaum je um Aufführungen sich bemühend. Ein riesenhaftes Korpus von Manuskripten mit Hunderten von Querverweisen, Notizen, Marginalien, Streichungen und Korrekturen häufte sich an. Erst ein schwerer Herzanfall im Jahre 1918, der mehrfach mit dem Eintritt Amerikas in den Ersten Weltkrieg in Zusammenhang gebracht wurde, der aber vermutlich ebenso von der immensen Doppelbelastung durch Geschäft und Komposition herrührte, zwang ihn zu einjährigem Ausscheiden aus dem Beruf.

Zugleich erschütterte ihn dieser körperliche Zusammenbruch so stark, daß er begann, seine Werke wie eine Hinterlassenschaft zu sichten, das Wichtigste auszusondern und aus privaten Mitteln drucken zu lassen. Dies waren seine Essays Before a Sonata und die mit ihnen zusarnmenhängende Concord Sonata (beide 1920 gedruckt) sowie eine Sammlung seiner Lieder unter dem Titel 114 Songs (1922), die ebenfalls von einem längeren philosophischen Essay, dem Postface to 114 Songs, begleitet wurde.

1930 zog er sich völlig aus dem Geschäftsleben zurück, da seine Gesundheit starken Schwankungen unterlag, und in das Ende der zwanziger Jahre fällt auch die gänzliche Einstellung neuer kompositorischer Projekte, die bereits in der zeitlichen Nähe seines körperlichen Zusammenbruchs stagniert hatten. Ein Lied mit dem Titel Sunrise, das er im August 1926 vollendete, ist seine letzte abgeschlossene Komposition, nach der nur noch Entwürfe - wie die zu einer dritten Klaviersonate (1926/1927) oder zu der sogenannten Universe Symphony (bis 1928) - folgen, letztere freilich eines seiner kühnsten Konzepte überhaupt.

Erst in den dreißiger Jahren regte sich durch die unnachgiebige Vermittlung einiger Freunde (Henry Cowell, Nicolas Slonimsky, Aaron Copland) vermehrt das Interesse an Ives' Musik, und es kam auch zu ersten Aufführungen in Übersee (1932 in Paris, Berlin und Budapest). Im selben Jahr schrieb Ives unter dem Titel Memos seine musikalischen Erinnerungen, in denen er auf viele Fragen über die Entstehung und Bedeutung seiner Werke einging und die in ihrer Art als Dokument einzig dastehen (New York 1972, London 1973, deutsche Übersetzung: Zürich 1985).

Ausgedehnte Reisen füllten über ein Jahr in dieser Zeit wachsender Bekanntheit, und Ende der dreißiger Jahre fand jene legendäre Aufführung seiner Concord Sonata in New York durch John Kirkpatrick statt, die Lawrence Gilman im New York Herald Tribune (21. Januar 1939) die bedeutendste von einem Amerikaner komponierte Musik nannte und die Ives' Musik zum endgültigen Durchbruch verhalf.

Von dieser Zeit an begann sich Ives' Musik mehr und mehr im Konzertleben durchzusetzen, und 1947 wurde ihm der begehrte Pulitzer Prize für seine Dritte Symphonie zugesprochen. Diese hatte seinerzeit bereits Gustav Mahler in Wien zur Aufführung bringen wollen, nachdem er sie zufällig bei Ives' Kopist in New York gesehen und mit sich nach Europa genommen hatte (1911). Da Mahler jedoch starb und das in seinem Besitz befindliche Manuskript seither verschollen ist, mußte die Symphonie rekonstruiert werden und kam so erst zweiundvierzig Jahre nach ihrer Entstehung (1904) durch Lou Harrison zu Gehör.

Ende der vierziger Jahre begannen Henry und Sidney Cowell, die der Ives-Familie seit langem schon freundschaftlich verbunden waren, mit ihrer Biographie über Charles Ives, die aber erst nach seinem Tod (19. Mai 1954) veröffentlicht werden konnte.

Piano Sonata No. 2: »Concord, Mass., 1840-1860«

»Concord, Mass., 1840-1860«, so der Untertitel von Charles Ives' zweiter Klaviersonate, das sind das Städtchen Concord im Staate Massachusetts der USA und jener Zeitraum, in dem Concord zum Sammelpunkt einer Bewegung wurde, deren Einfluß auf das amerikanische Geistesleben bis heute anhält und die gewöhnlich als »Transzendentalismus« bezeichnet wird. Der Name überbewertet die Beziehung zur Transzendentalphilosophie des deutschen Idealismus (Kant, Fichte, Schelling, Schleiermacher), war diese doch neben dem Protestantismus, der europäischen Romantik, indischer Philosophie und Fouriers utopischem Sozialismus nur eine der zahlreichen, hier sich vereinigenden Strömungen. Im Kampf gegen ein Überhandnehmen von Rationalismus und Empirismus betonte der gleichermaßen mystisch-philosophische wie gesellschaftskritisch-aufklärerische Transzendentalismus die Eigenverantwortlichkeit des einzelnen - sei es gegenüber Gott angesichts kirchlicher Dogmatik, sei es gegenüber der Natur angesichts ihrer skrupellosen »Erschlieszung«, sei es gegenüber dem Nächsten angesichts legitimierter Sklaverei, jener der Farbigen auf den Plantagen des Südens wie jener der weißen Fabrikarbeiter Neuenglands. Besonderes Gewicht erhielten in unserem Jahrhundert Henry David Thoreaus Ideen vom aktiven und passiven Widerstand gegen die Staatsgewalt, auf die sich Mahatma Ghandi und Martin Luther King ebenso berufen haben wie der Widerstand gegen Hitler im besetzten Frankreich, Holland und Dänemark oder die Friedensbewegung der achtziger Jahre. Auch die Bewegung jener obrigkeitsfeindlichen Jugend, die den Ausbruch aus der Industriegesellschaft, alternative Lebensformen oder Konsumverzicht propagierte, besann sich immer wieder auf Thoreaus Ideen und Vorbild, so daß Elemente des Transzendentalismus nicht nur in den sechziger Jahren in die Studentenbewegung oder die Subkultur der Hippies eingingen, sondern sich gleichermaßen bei Jack Kerouac und Allen Ginsberg, den Protagonisten der »Beat Generation«, in den fünfziger Jahren nachweisen lassen.

Kopf des Transzendentalistenkreises, dem zugleich der Beginn der nationalamerikanischen Philosophie und Literatur zu verdanken ist, war der vormalige Bostoner Pfarrer Ralph Waldo Emerson (1803 bis 1882), der in seiner programmatischen Schrift Nature (1836) seine Leser ermutigte, zu Natur und Kultur einen unmittelbaren, nicht durch Tradition verstellten Zugang wiederzuerlangen. Beeinflußt von Swedenborgs Korrespondenzlehre sah er in der Natur eine erlösende, nur individuell erfahrbare Manifestation der oversoul

[Überseele] und verhieß, daß ein wachsendes Verständnis für den Symbolcharakter der Natur gleichermaßen in die Offenbarung Gottes wie in Selbsterkenntnis münde. Neben Emerson zählten zu dem engeren Kreis der Transzendentalisten besonders der Schriftsteller Nathaniel Hawthorne (1804-1864), der Reformpädagoge und Philosoph Bronson Alcott (1799-1888), die Schriftstellerin und Journalistin Margaret Fuller (1810-1850) sowie der Dichter und Essayist Henry David Thoreau (1817-1862), der gleich Emerson ein Tagebuch von gigantischem Ausmaß hinterließ und dessen später berühmtes Buch Walden (1854) die Erfahrungen eines zweijährigen Einsiedlerexperimentes zusammenfaßte. Zum weiteren Einflußbereich und Freundeskreis gehörten vor allem William Ellery Channing, Hermann Melville (der seinen Moby Dick Hawthorne widmete), Emersons langjähriger Korrespondent Thomas Carlyle, Walt Whitman, Louisa May Alcott, die Tochter Bronson Alcotts und Autorin des weitverbreiteten Kinderbuches Little Women (1868), und Henry James, dem Hawthorne selbst im Alter noch literarisches Vorbild war. In Europa war es Friedrich Nietzsche, der sehr früh Gedanken Emersons aufgriff und die Meisterschaft seiner Prosa pries.

Charles Ives, dessen Großeltern den Transzendentalisten zugehörten und bei denen laut Familienüberlieferung Emerson einst zu Gast gewesen war, war mit Lehre wie Literatur des Transzendentalismus von Kindheit an vertraut, teilte viele seiner Ideale und versuchte, sie als Geschäftsmann wie Komponist, öffentlich wie privat zu verwirklichen. Künstlerisch, politisch, moralisch, philosophisch war dies seine geistige Heimat, mit deren Erbe er sich musikalisch wie essayistisch ein Leben lang auseinandersetzte. Vermutlich regte Emerson mit seiner Sammlung Representative Men (1850) Ives auch an, bald nach der Jahrhundertwende den Plan für eine Reihe von Orchesterouvertüren zu entwickeln, die unter dem Titel Men of Literature Schriftsteller portraitieren sollten: Emerson, Robert Browning, Walt Whitman, Matthew Arnold, John Greenleaf Whittier und Henry Ward Beecher. Diesen Plan führte Ives jedoch nur ansatzweise aus und beendete einzig die Robert Browning Overture (1908-1912).

Die in diesem Rahmen 1907 begonnene Emerson Ouverture beruhte auf einem früher entstandenen Männerchor mit Orchesterbegleitung, doch formte Ives sie alsbald zu einer Art Klavierkonzert um, in dem das Orchester die Welt und das lauschende Volk verkörperte, während das Soloklavier den predigenden, lehrenden Emerson durch »zentrifugale« Kadenzen repräsentierte (eine Überdosis an Kadenzen, wie Ives später monierte). Der Übergang zum Soloklavierstück, zu dem Ives das viersätzig angelegte Konzert schließlich verschmolz, war damit ebenso vorbereitet wie der Übergang zum Kopfsatz Emerson jenes nur behelfsweise »Sonate« titulierten Klavierwerkes, das Ives den Transzendentalisten zum Gedenken schrieb und das als Concord Sonata nicht allein in Ives' Schaffen, sondern in der Klavierliteratur einen Höhepunkt bildet.

Die orchestralen Teile, aus denen eine kurze Bratschenbegleitung (ad libitum) selbst in der Klaviersonate noch überlebt, reduzierte Ives zu einem dichten, polyphonen, klavierauszug-ähnlichen Satz, dessen musikalische Genese und Syntax er in enger Beziehung zu Emersons improvisatorischer, oft sprunghafter Rhetorik sah.

Das Verfahren Emersons, seine überaus häufigen öffentlichen Reden ohne ein starres Konzept zu halten und nur auf eine Vielzahl verzettelter Notizen zu stützen, um so seine Argumentation nach Bedarf auf aktuelle Anlässe und Zusammensetzung seines Publikums abstimmen zu können, mag Ives' Kompositionstechnik zwar nicht unmittelbar beeinflußt haben, doch war ihm diese Methode durchaus bekannt und zumindest wohl Bestätigung seiner eigenen, auf ständige Entwicklung, Verwandlung, Erweiterung und Konzentration bedachten Arbeitsweise an dieser Sonate.

Gerade im Falle der Concord Sonata ist Ives' suchender Umgang mit den musikalischen Gestalten, sein Abtasten von Themen und Formen eher ein allmähliches Erspüren der Fliehkräfte seines Materials und nicht zu verwechseln mit den Korrekturen und Revisionen anderer Komponisten, die - oft auf Grund aufführungspraktischer Erfahrungen (die Ives fast völlig versagt waren) - einem Werk zu definitiver Gestalt und Reife verhelfen. Für Ives bedeutete es auch keinen Widerspruch, sich selbst nach der Veröffendichung der Sonate weiter mit ihr zu beschäftigen und neue Varianten zu erfinden, solchermaßen auf Abgeschlossenheit verzichtend, zugleich aber den Fluß des Geistes in einer Weise aufrechterhaltend, die ihm von der Thematik des Werkes her geboten schien.

Doch wollte Ives diese schöpferische Freiheit, die ihm so viel bedeutete, nicht auf sich allein beschränkt wissen; auch der Interpret sollte am Schaffensprozeß teilhaben können, sollte die ungewöhnliche Möglichkeit erhalten, das Notierte stets etwas anders auszulegen und all jene Varianten und Lesarten in die Interpretation einzubringen, die sich über Jahrzehnte hinweg angesammelt hatten. Der Spielraum, der sich aus dieser in der Musikgeschichte bis dahin vermutlich einmaligen Interpolierbarkeit der Fassungen ergibt, läßt sich allerdings nur voll ermessen, bedenkt man, daß Ives neben zwei gedruckten Ausgaben der Sonate (1920 und 1947) mindestens vierzehn »korrigierte« Versionen aus der Zeit zwischen den beiden Drucken sowie zusätzliche Änderungen nach der zweiten Ausgabe hinterließ, die alle zusammengenommen eigentlich erst die Concord Sonata ausmachen.

Da jedoch, abgesehen von den gedruckten Ausgaben, die große Mehrheit dieses Materials unveröffentlicht oder schwer zugänglich ist, blieb solche Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Fassungen einstweilen noch Utopie - Utopie wie Ives' Vorstellung, ein Interpret könne, gleich ihm mit seinen Four Transcriptions from 'Emerson' für Klavier solo (ca. 1917-1922), bestimmte Aspekte des Werkes improvisatorisch weiterführen.

Diese Vorstellung, die die Grenzen auch avancierten Interpretentums verkennt, ist der Thematik der Sonate vielleicht aber nur bedingt angemessen, da ein »Improvisieren über« zwar einerseits vom Notentext entbindet und zu einer virtuellen Öffnung des Werkes wird, andererseits aber der zeitliche Abstand, der uns von der Sonate inzwischen trennt, so groß geworden ist, daß eine solche Improvisation fast notwendig zur Stilkopie und Stilübung, wenn nicht gar zu einem »Improvisieren à la« würde, solange der Improvisator seinen eigenen Stil zurückstellt. Tut er dies allerdings nicht, wäre die Folge ein Changieren zweier musikalischer Stile, das der Sonate eine überaus simple, hoquetusartige Form überstülpen würde. Um beides kann es Ives nicht gegangen sein, dessen Gefühl für Originalität und Individualität bei weitem zu emphatisch war, als daß er in dieser Art Zweiter-Hand-Improvisation letztlich mehr als eine Brücke zu wirklichem Schöpfertum hätte sehen können.

Ives war im übrigen unsicher, ob er einzelne, am Klavier extemporierte Entwicklungen der Sonate überhaupt aufzeichnen solle, da ihm dies »das tägliche Vergnügen« nehme, »diese Musik immer wieder von neuem zu spielen, sie heranwachsen zu sehen und zu spüren, daß sie noch unvollendet ist«, ein Vergnügen, das ihm sonst kein anderes Werk zu bieten imstande war. Und im selben Memo von 1933 fährt er fort: »Ich möchte das andauernde Vergnügen haben, sie [die Sonate] nicht zu vollenden, und ich genieße die Hoffnung, daß sie nie vollendet sein wird [...].«

Um die Wandlungen jedoch noch unmittelbarer als durch schriftliche Aufzeichnung möglich festzuhalten, plante Ives eine nicht zur Veröffendichung, sondern zu seiner »eigenen Genugtuung und zu Studienzwecken« bestimmte Schallplattenaufnahme, bei der er jeden Satz in zwei oder drei Fassungen spielen wollte. Hieran knüpfte er die Zuversicht, »Henry Cowell, Nicolas Slonimsky oder irgendein anderes akustisches Genie« werde die Aufnahme später transkribieren können. Die Tonaufnahmen, die dann im Juni 1933 bei der Lon- doner »Columbia Graphophone Company« stattfanden, ernüchterten den studiounerfahrenen und verzeihlich nervösen Ives jedoch stark, und er beklagte den Tod der in die Maschinerie geratenen Musik heftig.

Um auf die verschiedenen Versionen der Sonate und ihre grundsätzliche Gleichberechtigung aber ein letztesmal zurückzukommen, so wird erkennbar, daß sich mit diesem Werk wie keinem zweiten eine säkulare editorische Aufgabe stellt, an deren Bewältigung sich einst der Eigenanspruch amerikanischer Textkritik und amerikanischen Verlegertums wie beider Stellung zwischen Kunst und Kommerz exzellent wird ablesen lassen.

Die Vorgeschichte der Sätze Hawthorne, The Alcotts und Thoreau ist nicht ganz so vielschichtig und verschlungen wie die von Emerson, soll hier aber gleichfalls nur angedeutet werden. Hawthorne geht einerseits auf drei anfänglich für zwei Klaviere und möglicherweise vier Pianisten konzipierte Stücke nach Erzählungen Haw-

thornes zurück, andererseits hängt der Satz mit einem Hawthorne Concerto für Klavier und Orchester (1910) zusammen.

The Alcotts beruht teilweise auf einer Orchard House Overture für Orchester (1904), und in Thoreau fanden Abschnitte aus dem langsamen Satz eines Streichquartettes aus dem Jahre 1905 Eingang, während andere Partien von »Walden-Klängen« inspiriert wurden, Klängen aus der Umgebung von Walden Pond, wo Thoreau zurückgezogen gelebt hatte: Kirchenglocken vom nahen Concord, Flöte, die Thoreau selbst spielte, und Äolsharfe, zu der für Thoreau die Drähte der neuen Telegraphenleitung wurden, in denen der Wind sang. Fast alle diese Vorstufen wurden entweder nicht fertiggestellt oder gingen bis auf wenige Skizzen verloren.

Die Absichten, die er mit dieser Sonate verfolgte, formulierte Ives abrißartig zu Beginn seiner Essays Before a Sonata [Essays vor einer Sonate] (1919), die er nur aus praktischen Gründen nicht in einem Band mit den Noten zusammenfaßte und deren beider Druckkosten er selbst trug. »Das Ganze stellt den Versuch dar, den Eindruck (einer Person) vom transzendentalistischen Geist wiederzugeben. [...] Dies geschieht durch großflächige Darstellungen von Emerson und Thoreau, eine Skizze der Alcotts und ein Scherzo, welches die leichtere Geistesart wiedergeben soll, die einen Teil der Phantastik bei Hawthorne kennzeichnet.«

Und besorgt, man könne sein Werk vorschnell der Programm-Musik zurechnen, wehrt er ab: »Die Ecksätze wollen nicht programmatische Darstellungen des Lebens oder bestimmter Werke Emersons und Thoreaus, sondern lediglich zusammengesetzte Bilder oder Eindrücke davon sein.« Ansonsten kommt Ives auf die Sonate in den Essays nur selten zurück, und philosophische, historische und musikästhetische Betrachtungen stehen im Vordergrund.

Im Epilog, dem umfangreichsten Essay, entwickelt er unter anderem eine etwas vage dualistische Theorie von substance [Substanz] und manner [Ausdrucksweise], die für sein Kunstverständnis insgesamt zentrale Bedeutung hat. Aufschluß geben die Essays auch über jenes Beethoven-Zitat - das Hauptmotiv der fünften Symphonie -, das alle Sätze der Sonate von der ersten bis zur letzten Zeile durchzieht und das sich in schöner Dreideutigkeit gleichermaßen als Beginn der Choräle Missionary Chant von Heinrich C. Zeuner (1795-1857) wie Martyn von Simeon B. March verstehen läßt.

»ln jenen vier Noten ist eine der größten Botschaften Beethovens enthalten, schreibt Ives und versucht, ihr Orakel dahingehend zu deuten, daß sie als Seele der Menschheit an die Tür der göttlichen Geheimnisse pochten, unerschütterlich im Glauben, daß sie einstmal geöffnet werden wird - und daß das Menschliche und Göttliche eins werden!«

Neben diesem Beethoven-Zitat, das zugleich eine Hommage an die Kunstmusik Europas ist, durchwirken wie in vielen anderen Werken Ives' zahlreiche Zitate amerikanischer Musik diese Sonate, besonders sinnfällig im zweiten Satz, wo sich Bruchstück von Ragtimes, Marschmusiken und Chorälen in unnachahmlicher Weise reihen.

Nichts scheint dieser Musik unmöglich, kein Gegensatz zu groß: Schärfste Dissonanz folgt nahtlos nostalgischem Wohllaut, Poetisch-Lyrisches Trivialem, Chaotisches Entrücktem - Musik voller Widersprüche, die sich selbst ins Wort fällt, doch nie ins Banale abgleitet. Und vielleicht ist dies die eigentliche Kraft von Ives, im Einbezug und Belassen des scheinbar Unvereinbaren ein »wahreres« Bild dieser Welt zu entwerfen, als dies einer »exklusiven« Kompositionstechnik möglich wäre, eine Kraft, die sich Spieler und Hörer mitzuteilen vermag und die die Spannung seiner Musik ausmacht.1




1 Herbert Henck, Experimentelle Pianistik - Improvisation. Interpretation. Komposition, Schott , Mainz etc., 1994 [Die Fußnoten des Originals wurden hier ausgespart]