text copyright Herbert Henck

 

 

Charles Koechlin (1867-1950)

Les Heures Persanes. Seize pièces pour piano op. 65

uvre posthume (1913-1919)

Eine Werkeinführung

I. Sieste, avant le départ [à Pierre Loti]
II. La caravane (rêve, pendant la sieste) [à Henri Rabaud]
III. L'escalade obscure [à Henry Daguerches]
IV. Matin frais, dans la haute vallée [à Roger Désormière]
V. En vue de la ville [à Pierre Mille]
VI. A travers les rues [à Jeanne Herscher-Clément]
VII. Chant du soir [à Paul Locard]
VIII. Clair de lune sur les terrasses [à Marie Viton de St Allais]
IX. Aubade [à Maurice Ravel]
X. Roses au soleil de midi [à Erik Satie]
XI. A l'ombre, près de la fontaine de marbre [à Gabriel Fauré]
XII. Arabesques [à Félix Delgrange]
XIII. Les collines, au coucher du soleil
[à Joseph-Arthur Comte de Gobineau]
XIV. Le conteur [à Joseph Charles Victor Mardrus]
1. Le Pêcheur et le Genni
2. Le Palais enchanté
3. Danse d'adolescents
4. Clair de lune sur les jardins
XV. La Paix du soir, au cimetière [à Camille Saint-Saëns]
XVI. Derviches dans la nuit ([Coda:] Clair de lune sur la place deserte) [à Darius Milhaud].

[Übersetzungen der Satzbezeichnungen finden sich im Text]

»Qui veut venir avec moi voir à Ispahan la saison des roses, prenne son parti de cheminer lentement à mes côtès, par étapes, ainsi qu'au moyen âge.« - »Wer mit mir kommen und die Zeit der Rosenblüte in Ispahan sehen will, der entschließe sich, langsam in Etappen an meiner Seite zu wandeln, so wie im Mittelalter.« Mit diesen halb lockenden, halb warnenden Worten leitet der langjährige Marineoffizier Julien Viaud (1850-1923), der als Verfasser zahlreicher, zumeist exotischer Romane unter dem Pseudonym Pierre Loti bekannt wurde, die tagebuchartige Beschreibung seiner knapp zweimonatigen Reise durch Persien ein, die ihn im Jahre 1900 von Buschir am Persischen Golf über die Steilen zum iranischen Hochland hinauf, durch Schiras, vorbei an den Ruinen Persepolis' nach Isfahan [Ispahan], von dort nach Teheran und schließlich über das Elburs-Gebirge wieder hinab ans Kaspische Meer geführt hatte.

Dieser Reisebericht, unspektakulär, doch voller Melancholie über den Verlust einstiger Größe und Schönheit, 1904 in Paris unter dem Titel »Vers Ispahan« und zwei Jahre später als »Gen Ispahan« auf deutsch erschienen, war eine der wesentlichen Quellen, aus denen Charles Koechlin schöpfte, als er 1913 mit der Komposition eines über die Jahre hin auf sechzehn Stücke anwachsenden Klavierzyklus begann, den er »Les Heures Persanes«, »Die persischen Stunden«, nannte und dessen 1921 beendeter Orchesterfassung er den Untertitel »16 Orchesterstücke nach ,Vers Ispahan' von Pierre Loti« gab.

Gleichwohl ist Koechlins Zyklus nur etwa zur Hälfte, mit wechselnder Deutlichkeit, an Lotis Buch orientiert, und als gleichrangige Anregungen dürften die Reiseberichte und Erzählungen des Diplomaten Joseph-Arthur Comte de Gobineau (1816-1882) sowie die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht in der französischen Übersetzung von Victor Mardrus (1868-1949) zu werten sein, da beide, Gobineau wie Mardrus, neben Loti, Ravel, Satie, Milhaud, Fauré, Saint-Saëns und anderen, weniger bekannten, zu den Widmungsträgern der Heures Persanes zählen sollten. Gobineaus Beschreibung von Persien, Trois ans en Asie (1859), behandelt übrigens über weite Strecken dieselbe Reiseroute, die später auch Loti einschlug.

Koechlin dagegen hat Persien nie besucht, und unbekümmert um den möglichen Vorwurf mangelnder Authentizität nannte er Les Heures Persanes selbst »un voyage imaginaire«, eine Reise in Gedanken, in der Vorstellung. Daß es hier nicht um ein wirklichkeitsgerechtes Abbild Persiens gehen konnte und sollte, steht außer Frage. Das Aufsuchen des Fremden, Exotischen war in der Kunst stets legitimer Weg, Bereiche zu thematisieren, die der eigenen Kultur traditionell verwehrt waren. Dekoratives, Repetitives, Entwicklungsloses, Sinnliches, Ekstatisches oder Heidnisches fanden so oft erst im Exotischen, wie im Jazz zum Beispiel, Ort und Ausdruck.

Eine fiktive Reise also, in der sich Historie und Phantasie unauflösbar verweben zum Tableau, zum Genrebild, zur Idylle, zur Miniatur. Doch sind nur einige dieser Bilder Stilleben, ruhend wie das Eingangsstück, flächig ausgebreitet wie »Die Hügel, bei Sonnenuntergang« (XIII). Andere greifen Bewegungen auf wie das unmerkliche Gleiten des Mondlichtes (VIII), den traumhaften Zug der Kara-

wane (II), das Emportasten auf dem Steilpfad (III), das Plätschern des Brunnens (XI), die immer verzweigter sich windenden Arabesken (XII), das »Gewimmel« auf der Straße (VI) oder den rasenden Tanz der Derwische (XVI) - Szenen von jeweils charakteristischer Stimmung und Geschwindigkeit, die, wenn auch nur vorgestellt, eine ähnliche Faszination auf Koechlin ausgeübt haben mögen wie ein andermal die Gestalten in Rudyard Kiplings Dschungelbuch, aus dem Koechlin zwischen 1899 und 1940 einen fünfteiligen Orchesterzyklus ableitete, oder wie in den dreißiger Jahren der Film, dessen frühe Stars er in teils großformatigen Portraits feierte (darunter Douglas Fairbanks, Lilian Harvey, Greta Garbo, Marlene Dietrich, Charlie Chaplin). Diese sich von konkreter Vorgabe nährende Inspiration, der sich auch sein umfängliches Liedschaffen mitverdankt, steht bei Koechlin freilich in wohlausgewogenem Verhältnis zu konstruktiver, abstrakter, gelegentlich didaktischer Komposition, die ihn immer wieder zu neutralen Titeln wie »Stück«, »Sonate«, »Sonatine«, »Quartett«, »Quintett« usw. greifen ließ. Daß beide Bereiche in Wirklichkeit ständig einander durchdrangen, versteht sich am Rande.

Koechlins innige Verbundenheit mit der Thematik des Lichtes, dem Wechsel von Hell und Dunkel, Sonne und Mond, Tag und Nacht, Monat und Jahreszeit, die sich in sämtlichen Schaffensepochen offenbart und als Vortragsbezeichnung lumineux (leuchtend), häufig bis in die musikalische Gestaltung vordringt, führt in den Heures Persanes zu einer formalen Synthese besonderer Art. Die Anordnung der sechzehn Stücke macht deutlich, daß in diesem gut einstündigen Zyklus mehr als zwei ganze Tage an uns vorüberziehen: Der Ruhe am Vortag der Reise (I) und dem Traum von einer nächtlichen Karawane (II) folgen - noch vor Tagesanbruch - der Aufstieg durch die Steilwände zum Hochland hinauf (III) und der »Kühle Morgen, im Hochtal« (IV). Die Stücke »Bei Anblick der Stadt« (V) und »Quer durch die Straßen« (VI) spielen am hellichten Tag, bevor »Abendlied« (VII) und »Mondschein auf den Terrassen« (VIII) den ersten Tag in der Mitte des Zyklus beschließen.

Mit Aubade (IX), einem Morgenständchen, bricht der zweite Tag an. »Rosen im Licht der Mittagssonne« (X) und »Im Schatten, beim Marmorbrunnen« (XI) stehen wieder für den hellen, heißen Tag. »Arabesken« (XII) ließe sich als Intermezzo, als Spiegelspiel zwischen Licht und Dunkel deuten, und mit »Die Hügel, bei Sonnenuntergang« (XIII) wirft die dritte Nacht ihre Schatten voraus.

Den Erzähler und seine drei Märchen »Der Geist aus der Flasche«, »Das Zauberschloß« und »Tanz der Jünglinge« (XIV) verbindet man bereits mit der Abendstunde, der Einkehr von Ruhe, während in »Der Abendfriede, auf dem Friedhof« (XV) und in »Derwische in der Nacht« (XVI) die Tageszeiten nochmals direkt ausgesprochen sind.

Ohne den harmonikalen Aspekt solcher Gliederung überbetonen zu wollen, ordnet die einschwingende zweifache Kreisform der Stücke den musikalischen Zyklus in den natürlichen Ablauf der Zeit ein oder, kosmologisch gesprochen, in den von Sonne und Mond beherrschten Zusammenhang, der dem Werk eine weit über die musikalischen Beziehungen hinausreichende Einheitlichkeit verleiht. Freilich ist trotz solch formaler Geborgenheit nicht zu überhören, daß dem Werk, hierin Lotis Buch vergleichbar, insgesamt ein Ton wehmütiger Versunkenheit eigen ist, der nur einmal, auf dem Mittel- und Höhepunkt des Zyklus, im »Mondschein auf den

Terrassen« (VIII), zu tragischer Klage sich steigert, einer Klage über den Verlust von Kultur schlechthin, die sich später im »Mondschein auf den Gärten« (dem Ende von XIV) und im »Mondschein auf dem verlassenen Platz« (der Coda von XVI) gemildert wiederholt, die sich aber auch als Brücke zu jener Kriegsgegenwart verstehen läßt, auf deren Hintergrund Les Heures Persanes komponiert wurden.1

Charles Koechlin, geboren am 27. November 1867 in Paris, entstammte einer Familie von Erfindern, Ingenieuren, Industriellen und Künstlem, die über Jahrhunderte im elsässischen Mulhouse ansässig war. Mit sechs Jahren bekam er Klavierunterricht und begeisterte sich dann für Berlioz, Bizet, Massenet und besonders Chopin. Auch Astronomie, Mathematik, Naturwissenschaften und Philosophie beschäftigten sein jugendliches Interesse; erste Kompositionsversuche unternahm er mit fünfzehn Jahren. Koechlin begann 1887 ein Studium an der École Polytechnique/Paris, das er 1888 wegen einer Tuberkuloseerkrankung, die er in Algerien (Februar-Mai 1888; Dezember 1888-Februar 1889) ausheilte, abbrechen mußte. Die Absicht, Astronom zu werden, gab Koechlin 1889 auf. Er entschied sich für die Musik und begann 1890 seine Studien am Pariser Conservatoire bei Antoine Taudou, André Gédalge und Jules Massenet. Als Massenet sich 1896 zurückzog, wurde Koechlin Schüler von Gabriel Fauré, der ihn 1898 zu seinem Assistenten machte und ihn 1898 auch mit der Orchestration seiner Musik zu Maeterlincks Drama Pelléas et Mélisande betraute.

Mit Fauré, Ravel, André Caplet u. a. gründete Koechlin 1910 die Société Musicale Indépendante (SMI), die sich dann besonders für Aufführungen zeitgenössischer Musik einsetzte. Freundschaft und gegenseitige Wertschätzung verbanden ihn nicht nur mit Debussy, dessen Ballettmusik Khamma er 1913 instrumentierte, sondern auch mit Satie, Rolland, Ravel, Roussel und dem wesentlich jüngeren Milhaud. Finanzielle Probleme zwangen Koechlin ab 1917, die Existenz seiner großen Familie durch Unterrichtstätigkeit, musikschriftstellerische Arbeit (Bücher über Fauré und Debussy, Aufsätze und Kritiken für Musikzeitschriften) und Abfassung von Lehrbüchern (insgesamt zehn; u. a. über Kontrapunkt, Harmonielehre, Fuge, Orchestration, modale Polyphonie) zu sichern. Zu seinen Schülern gehörten Poulenc und Henri Sauguet. Zwischen 1918 und 1937 unternahm er vier ausgedehnte Reisen in die USA und nach Kanada zu Vorlesungen an verschiedenen Universitäten.

Ab 1937 übernahm er einen Lehrauftrag an der Schola Cantorum in Paris. Ein 1932 in Paris veranstaltetes Festival, bei dem wichtige Orchesterwerke Koechlins unter Roger Désormière aufgeführt wurden, brachte ihm zwar große Anerkennung, aber nicht den erhofften Durchbruch. Nach dem Tod von Roussel wurde Koechlin 1937 Präsident der Fédération Musicale Populaire (FMP) und der französischen Sektion der IGNM.

Den Beginn des 2. Weltkriegs erlebte der linke Humanist Koechlin als unfaßbare Katastrophe: Seine kompositorisch-schöpferische Inspiration kam ab Ende 1939 für etwa drei Jahre fast völlig zum Erliegen. In dieser Zeit widmete er sich, neben der Überarbeitung früherer Kompositionen, der Niederschrift seines vierbändigen Traité de l'orchestration. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Prix Primont und Prix Lasserre (beide 1935), Prix Cressent (1936), Prix Halphan (1937), Prix Laguerre (1942), Prix Chabrier (1946), Grand Prix de la Musique Française (1949) und 1950 einen Preis für Offrande musicale sur le nom de BACH op. 187 (1942-1946). - Am 31. Dezember 1950 starb Koechlin in seinem am Mittelmeer gelegenen Haus in Le Canadel, Département Var.

Auch vierzig Jahre nach seinem Tod ist das kompositorische Werk Koechlins noch weitgehend unbekannt. György Ligeti sieht in ihm »das wichtige Bindeglied zwischen Debussy und Messiaen.« Schon 1915 hatte Darius Milhaud in einem Brief an den fünfundzwanzig Jahre älteren Koechlin den zukunftsweisenden Aspekt von dessen Musik charakterisiert: »Angesichts Ihrer Kompositionen habe ich den Eindruck, es mit der Musik eines Zauberers zu tun zu haben, der der Generation nach mir selbst angehören könnte.«

Koechlins Schaffen umfaßt über zweihundert Werke. Mit Ausnahme der Oper sind alle musikalischen Gattungen vertreten, darunter mehr als vierzig große Orchesterwerke, über fünfzig Kammermusikwerke, mehr als einhundert Lieder, zahlreiche Stücke und Zyklen für Klavier sowie Orgel- und Chorkompositionen. 1890-1908 komponierte er u. a. Lieder (Rondels und Mélodies für Sopran und Klavier) und unternahm ab etwa 1896 erste symphonische Versuche. Die musikalische Substanz ist bei den frühen Orchesterwerken noch nicht voll tragfähig; liegende Harmonik und Pedaltöne erzeugen eine gewisse Unbeweglichkeit. Erst nach 1908 verfügte Koechlin mehr und mehr über seine »technique du développement«, seine Technik der musikalischen Fortspinnung. Ausgewogenheit zwischen Harmonik und Stimmführung, das Aussparen von Überflüssigem, verbunden mit Klarheit und Prägnanz der Instrumentation, kennzeichnen die gewonnene Freiheit. Dabei kommt den Klangfarben des Orchesters zunehmend Bedeutung im Sinn der Verdeutlichung musikalischer Strukturen zu. Der Kompositionsprozeß erstreckte sich meist über Jahre; fast immer waren mehrere Werke gleichzeitig in Arbeit, die dann aber in kürzester Zeit instrumentiert wurden.

Als Komponist eher ein Spätentwickler, fand Koechlin nach 1910 zu einer unverwechselbaren Musiksprache. Nun fühlte er sich »befähigt, das gefährliche Gebiet der Kammermusik zu betreten.« Um 1913 gelangte er zu Polytonalität und zu tonal nicht mehr fundierter Musik (u.a. Sonate für Viola und Klavier op. 53, Klavierzyklus Les heures persanes op. 65, Klavierquintett op. 80).

Landschaften und Naturbetrachtung, mediterrane Helligkeit und Sternenhimmel, die Zauberwelten der Nacht und der Träume beflügelten Koechlins Phantasie (En mer, la nuit op. 27, Vers la voûte étoilée op. 129, Sur les flots lointains op. 130). Gegenpol zu solchen »Reisen in erträumte Welten« waren seine Anteilnahme an aktuellen Entwicklungen und sein politisch-soziales Engagement (»Revolutionschor« Libérons Thälmann op. 138, Musik zu Henri Cartiers Film Victoire de la vie). Die Möglichkeiten des neuen Mediums Film faszinierten Koechlin seit Beginn der dreißiger Jahre zunehmend (The Seven Stars Symphony op. 132, Album de Lilian op. 139/149, Sept chansons pour Gladys op. 151). Die »Qualität der Linie« war schon immer ein wesentlicher Aspekt von Koechlins Musikdenken, sein letztes Lebensjahrzehnt zeigt insgesamt eine Hinwendung zur ungebundenen Einstimmigkeit, zur Monodie (u.a. La loi de la jungle op. 175, Les chants de Nectaire op. 198/199/ 200 für Flöte, Onze onodies pour instruments à vent op. 216, Stèle funéraire op. 224).

Drei Jahre vor seinem Tod schrieb Charles Koechlin mit Blick auf die doch recht seltenen Aufführungen seiner Musik: »Mir bleibt die Hoffnung, daß man eines Tages von selbst darauf kommen wird, und wenn ich noch einige Jahre lebe, werde ich vielleicht meine Offrande musicale sur le nom de BACH [op. 187 (1942-1946)] und meine symphonische Dichtung Le buisson ardent [op. 203/171 (1945/1938)] noch hören können« (Hörfunktext 1947).

Dieser Wunsch ging nicht in Erfüllung. Zwar wurden die beiden Werke aus seiner letzten Schaffensphase posthum (1973 bzw. 1951) uraufgeführt, aber trotz einer nicht geringen Zahl von Konzerten und Tonträgerveröffentlichungen hat Koechlins Musik insgesamt bis heute ein breiteres Publikum kaum erreichen können. Die Gründe erscheinen vielfältig; sie liegen auch in Koechlins Musik selbst, die sich nicht aufdrängt, vielmehr eine zunächst eher verhaltene Wirkung ausübt.

Koechlins ursprüngliche Begabung als Komponist liegt auf dem Gebiet der harmonischen Imagination sowie im souveränen Umgang mit dem Instrument Orchester. Die rhythmisch-agogische Kraft und die Erfindung einprägsamer thematischer Bildungen bleiben dahinter nicht selten zurück. Koechlins Musik entwickelt sich inventionsartig; sie ist permanenter Veränderung unterworfen und vermeidet Wiederholungen oder symmetrisch gebaute Perioden. Die weitgespannten Phrasen sind fließend und frei, die Schwerpunkte weiträumig gesetzt. Die Entwicklungen streben oft nur sehr allmählich den erst spät eintretenden Kulminationspunkten entgegen; das verlangt den langen Atem des Zuhörers. Weitere Gründe für die ausgebliebene Resonanz auf Koechlins Schaffen seien nur gestreift: Sein kompositorisches uvre ist aufgrund seines Umfanges, seiner Vielschichtigkeit und der ungleichgewichtigen Bedeutung der einzelnen Werke und Werkgruppen schwer zu überblicken und widersetzt sich eindeutigen Zuordnungen. Des Komponisten Reputation als Lehrer, Musikschriftsteller und Theoretiker - weit über Frankreich hinaus genießen seine Lehrbücher hohes Ansehen - mag, einem Vorurteil entsprechend, ein übriges dazu beigetragen haben, daß seine Musik im Schatten blieb. Zudem nahm Koechlin hinsichtlich der Aufführungspraxis wenig Rücksicht auf den Musikbetrieb: Seine Orchesterwerke sind nur in intensivster Probenarbeit zu bewältigen; die zumeist große Orchesterbesetzung ist oft durch ungewöhnliche Instrumente (Ondes Martenot, Harpeluth o. a.) erweitert. Auch ist das Notenmaterial der Werke zum Teil vergriffen oder nur schwer zugänglich, und eine nicht geringe Zahl von Druckfehlern verfälscht die nach Koechlins Tod publizierten Ausgaben. Jedoch sind unter den annähernd fünfzig Orchesterwerken Koechlins noch ungehobene Schätze zu entdecken: »Auf diese Werke zu verzichten, können wir uns kaum leisten« (Heinz Holliger in einem Rundfunkinterview anläßlich der 39. Berliner Festwochen 1989). [...]2

1 Herbert Henck, Experimentelle Pianistik, Mainz 1994, S. 153-155 (Der Text entstand für das Booklet der WERGO-CD WER 60 137-50).

2 Otfrid Nies, Lexikonartikel in Komponisten der Gegenwart, a. a. O., S. 1-3 des umfangreichen Aufsatzes mit Werkverzeichnis und zahlreichen Notenbeispielen.