Arthur Lourié (1892-1954)

Formes en l'air, 3 Klavierstücke (1915)

Formen in der Luft

Arthur Vincent Lourié [...] hat sich selbst einmal als einen Komponisten eingeschätzt, der anderen Musikern ein intensives Verhältnis zur Poesie und bildenden Kunst voraus habe. Aktiv im Kreis der russischen Futuristen, war er einer der frühesten und vielseitigsten musikalischen Experimentatoren. Schon 1912 begann er mit Zwölftonkomplexen zu komponieren, 1915 veröffentlichte er in der Futuristenzeitschrift Strelec Ideen zu einer Viertelton-Notation. Aus diesem Jahre stammen auch seine Pablo Picasso gewidmeten Formen in der Luft, ein Urmodell graphischer Komposition. Harmonisch zeigen diese drei Miniaturen den herben, dissonanzreichen, Zusammenklänge mit Halbtonspannung bevorzugenden Stil der frühen experimentellen Periode, die dann wenig später abgelöst wurde von einer Wendung zur neuen Einfachheit, zu einer neuen Diatonik und Linearität, für die Lourié ebenfalls einer der frühesten Vorläufer war.

Zum Tempo und der Spielweise der Formes en l'air macht der Komponist keine Angaben, wobei - in Anbetracht der andererseits sehr minutiösen dynamischen Vorschriften - der Schluß naheliegt, daß er diese Frage in die intuitive Entscheidung des Interpreten stellt. Bei dieser Entscheidung ist zu bedenken, daß Lourié einer der frühesten und konsequentesten Vertreter eines neuen Klangideals der Sachlichkeit und Reduktion war: die Formen in der Luft sind nicht im Sinne Skriabinscher Klangextase, sondern durchsichtig zu denken.

Wie sein Freund, der Dichter Alexander Blok, und die meisten russischen Futuristen hatte sich Lourié für die Oktoberrevolution engagiert. Von Lunacarskij als Musikkommissar berufen, bewirkte er als erster Musikminister des jungen Sowjetstaates, daß sich die linken, avantgardistischen Kunstströmungen zunächst entfalten konnten. 1922 kehrte er jedoch von einer Dienstreise, die ihn in Berlin mit Busoni und in Paris mit Strawinsky in Kontakt brachte, nicht zurück. Aus Frankreich als bolschewistischer Kommissar zunächst ausgewiesen, konnte er 1924 dann doch in Paris ansässig werden, von wo ihn 1941 die deutsche Besetzung vertrieb: Lourié, obschon getaufter und überzeugter Katholik, entstammte einer traditionsreichen, im Mittelalter aus Spanien vertriebenen jüdischen Familie. Auf Einladung Sergej Kusevickijs konnte er in die Vereinigten Staaten emigrieren, wo er bis zu seinem Tode lebte, doch relativ unbekannt blieb und von der Neuen Musik nach dem II. Weltkrieg nicht mehr beachtet wurde. Lourié komponierte neben zahlreichen Orchester-, Kammer- und Solowerken zwei Opern auf Puskinsche Sujets: Das Festmahl während der Pest (1935) und Der Mohr Peters des Großen (1961).1

Artur Sergeevic Lur'e (selbstgewählter Künstlername: Arthur Vincent Lourié), geboren am 14. Mai 1892 in St. Petersburg, stammte aus wohlhabender jüdisch-sephardischer Holzhändler-Familie,die ihren Ursprung von dem mittelalterlichen Mystiker Isaak Luria herleitete. Er erhielt in früher Jugend Klavierunterricht, trat ins Petersburger Konservatorium ein, genoß den Unterricht Aleksandr Glazunovs und scheint in frühen Werken vor allem durch das Vorbild Debussys beeinflußt. Durch Nikolaj Kul'bin kam er in Berührung mit den Petersburger Futuristen und durch die Begegnung mit Busoni zu umstürzend neuen musikalischen Denkweisen und Konzepten, die ihren Niederschlag in frühen Ansätzen zu Zwölfton- (Ivresse, 1912) und Reihentechnik (Synthèses, 1914) findet. Der futuristische, aus dem Symbolismus übernommene Gedanke von der Einheit aller Künste unter gemeinsamen Prinzipien, der programmatisch im von Lourié mitunterzeichneten Manifest Wir und der Westen - Unsere Antwort an Marinetti (1914) verkündet wurde, fand bei Lourié seine Verkörperung in den graphisch determinierten Klavierminiaturen Formen in der Luft (1915).

Wie viele Futuristen und Künstler - darunter sein Freund Aleksandr Blok - engagierte sich Lourié auf seiten der Oktoberrevolution und war als Musikkommissar 1918-1922 im Kulturministerium Anatolij Lunacarskijs tätig, resignierte jedoch bald an ihren Zielen und emigrierte 1922 über Berlin nach Paris, wo ihn Freundschaft (zunächst) mit Igor Stravinskij und mit dem Philosophen Jacques Maritain verband. Hier entstand seine Ballettoper Das Festmahl während der Pest (nach Puskin, 1929-1933), kam aber nicht mehr zur Aufführung.

Im 2. Weltkrieg mußte er als Jude 1941 aus Frankreich fliehen. Zuflucht in den Vereinigten Staaten ermöglichte ihm die Einladung Sergej Kusevickijs, der sich einerseits als sein Mäzen erwies - so mit dem Kompositionsauftrag für seine zweite Oper Der Mohr Peters des Großen (nach Puskin, 1949) - und andererseits seine ghostwriter-Dienste in Anspruch nahm. Nach dessen und anderer Förderer Tod in völlige Vergessenheit geraten, fand er zuletzt Zuflucht im Haus des inzwischen an der Universität Princeton/New Jersey habilitierten Jacques Maritain, wo Lourié am 13. Oktober 1966 an einer zu spät erkannten Urämie starb. In den letzten Lebensjahren hatte er noch ein beachtliches graphisches Werk zustande gebracht, das bisher unveröffentlicht ist.

In einer Reihe mit dem späten Skrjabin, mit Nikolaj Roslavec, Nikolaj Obouhow oder Efim Golysev gehört Lourié zu jenen russischen Komponisten, die bereits in den Zehner Jahren - im Umkreis des russischen Futurismus und des »Blauen Reiters« (Nikolaj Kul'bin), unabhängig jedenfalls von den zeitlich später aufgekommenen Ausprägungen der 2. Wiener Schule - atonale Tonsatzsysteme mit Zwölfton-, Reihen- und anderen Ordnungsprinzipien aufbrachten, inspiriert von Busonis Versuch einer neuen Ästhetik der Tonkunst (1907) und offenbar von weiteren italienischen Futuristen wie z. B. Domenico Alaleona, der 1911 den Begriff Dodecafonia prägte. Indessen baute Lourié nicht, wie andere, diese Ansätze zum System und Lebenswerk aus, sondern wandte sich eher im Sinne von Busonis Idee, jede Wiederholung einer gefundenen Lösung zu vermeiden, immer wieder neuen, zum Teil stilistisch gegensätzlichen Zielen zu.

Dazu gehörte von seinen frühen Werken an (etwa Pleurs de la Vierge Marie, 1915) eine Neigung zur Archaik geistlicher Musik (wobei Archaik dem Futurismus nicht wesensfremd scheint) und zur - fast in Vorläuferschaft zur minimal music - äußersten Reduktion der Ausdrucksmittel (z. B. Berseuse de la Chevrette für Klavier, 1936), zeitweise zu einer ironischen Neuen Sachlichkeit (Upman für Klavier und Panzer, 1917; A Little Chamber Music, 1924), schließlich zu neuer Entdeckung der Emotionalität in Widerspruch zu zeitgenössischem Objektivismus, des Melodieprinzips auf den Spuren von Puccini und Monteverdi, des Prinzips der Monodie (z. B. Dithyrambes für Flöte solo, 1942) und zur Wiederentdeckung russischer Klangwelten in seinen Opern. Durchgängiges Element seines Personalstils - selbst in den hochavantgardistischen frühen Schöpfungen- bleibt ein archaischer Unterton von Traurigkeit und Beschwörung.

In früher Jugend zum Katholizismus konvertiert, ist dessen geistige Sphäre (z. B. Marien-Mystik) für Louriés Schaffen in der Emigration immer bestimmender geworden, wobei der Einfluß des Neo-Thomismus, vertreten von dem ihm befreundeten Philosophen Jacques Maritain, eine Rolle spielte. Erst in jüngster Zeit gibt es in Rußland Bestrebungen, sein Werk, das bisher nur verschwiegen wurde, neu zu entdecken - in der Veröffentlichung seines Briefwechsels mit Irina Graham über Anna Achmatova durch Michail Kralin (Privatdruck Leningrad 1990) und mit Wiederaufführungen seiner Werke, u. a. beim Roslavec-Festival in Brjansk 1992.2