text copyright Herbert Henck

 

Alexander Mossolow (1900-1973)

Deux Nocturnes op.15 (1925 und 1926)

Klaviersonate Nr. 5 in D-Moll op.12 (1925)

Klavierwerke von Alexander Mossolow

Meine erste Bekanntschaft mit der avantgardistischen Musik Rußlands aus den revolutionären Jahren um 1920 machte ich im Rahmen des vom Westdeutschen Rundfunk in Köln vorbereiteten Festivals »Begegnung mit der Sowjetunion«, das im März 1979 stattfand. Das Programm enthielt neben jüngeren Arbeiten aus den sechziger und siebziger Jahren auch zahlreiche ältere Werke von Komponisten, die in ihrem Heimatland auf Grund mangelnder Anpassung an eine staatlich reglementierte Ästhetik oft jahrzehntelang benachteiligt, diffamiert und unterdrückt worden waren. Zu diesen zählte auch Alexander Mossolow (1900-1973), dessen Orchesterstück Die Eisengießerei (1928) und Vier Lieder auf Zeitungsannoncen (um 1928) zur Aufführung kamen.

Die Zusammenstellung der dreitägigen Veranstaltung, die durch ihre geschichtliche Aufarbeitung von Versäumtem und die überfällige Rehabilitierung einzelner Künstlerpersönlichkeiten als bahnbrechend bezeichnet werden darf, war dem Musikologen Detlef Gojowy zu danken, einem der besten Kenner der russischen Musik dieses Jahrhunderts und Verfasser eines grundlegenden Buches über ihre komplexe Entwicklung in den zwanziger Jahren.

Ich war als Pianist eingeladen worden, in deutscher Erstaufführung Klavierstücke von Josef Schillinger, Boris Alexandrow, Nikolai Roslavetz und Arthur Lourié zu spielen. Die Werke, deren Verfasser mir seinerzeit selbst namentlich noch unbekannt waren, stammten aus der Zeit zwischen 1914 und 1928 und zeigten zum Teil kompositorische Errungenschaften, die man ansonsten der Avantgarde Westeuropas vorbehalten glaubte. Innermusikalisch wurde die überkommene Harmonik bis hin zur schärfsten Dissonanz aufgelöst, wurden Notentexte unter graphischen Gesichtspunkten angeordnet oder, unabhängig von gleichartigen Bestrebungen andernorts, eigenständige Konzepte zur Tonhöhenorganisation (auch Zwölftontechniken) entwickelt. Neue moderne Themen kamen zur Darstellung. Die Musik trat vielfach propagandistisch in den Dienst politischer, gesellschaftsverändernder Ideen, und die Welt der Arbeit, Maschinen und Technik wurde ebenso Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzung wie das Leben der Großstadt. Parallel hierzu erkannte man die Bedeutung folkloristischer Traditionen und begann allerorts, das bedrohte Erbe zu dokumentieren, gleichzeitig aber auch kompositorisch mit der Kunstmusik zu verbinden. Allen diesen Strömungen begegnet man in Mossolows Werk.

1983 ergab sich die Gelegenheit, mehrere von Mossolows Klavierkompositionen einzustudieren - seine zweite, vierte und fünfte Sonate sowie die beiden Nocturnes. Ich spielte sie erstmals öffentlich in der Berliner Akademie der Künste im Rahmen der 33. Berliner Festwochen, in die eine dreiteilige Reihe mit dem Thema

»Symbolismus, Futurismus. Aspekte russischer Musik zu Beginn des

20. Jahrhunderts« eingegliedert war. Dieser Programmblock war von dem Komponisten und Musikologen Juan Allende-Blin erarbeitet worden und widmete das zweite Konzert unter dem Motto »Musik um den Futurismus: Skrjabin und die Skrjabinisten« am 2. September allein dem Schaffen Mossolows, eine in 0st wie West gleichermaßen ungewöhnliche Ehrung.

Fünf zwischen 1923 und 1925 komponierte Sonaten bilden das Zentrum von Mossolows Klavierwerk. Mossolow wich bei ihrer Zählung von der chronologischen Folge ab und zog die 1924 als zweite entstandene Sonate in C-Moll (op. 3) vor. Vielleicht empfand er ihren einsätzigen Entwurf innovativer, kompromißloser und für den Beginn eines Sonatenzyklus besser geeignet als die vorausgegangene klassisch dreisätzige Sonate in H-Moll (op. 4, 1923 bis 1924), deren rückgreifenden Aspekt er in dem Untertitel »Aus alten Heften« kenntlich machte. (Denselben Untertitel hatte bereits Sergej Prokofjew für seine dritte und vierte Klaviersonate verwendet, und möglicherweise knüpfte Mossolow an diese Tradition an.) Mossolows dritte Sonate (op. 6) ist verschollen, wenngleich eine Aufführung in Moskau am 20. Oktober 1924 belegt ist; die vierte (op. 11) ist einsätzig wie die erste, die fünfte (op. 12, 1925) in

D-Moll erstmals viersätzig. 1991 erschien in Moskau ein achtzigseitiges Heft mit unveränderten Nachdrucken der vier erhaltenen Sonaten, die noch in den zwanziger Jahren verlegt worden waren, und zwar zumeist in Gemeinschaftsausgaben der Musiksektion des Russischen Staatsverlages (Moskau) und der Universal-Edition A. G. (Wien und Leipzig).

Die in rascher Folge verfaßten Sonaten, in denen die Farben und Register des modernen Konzertflügels zu voller Entfaltung kommen und die in ihren Tempoanforderungen, ihrer Kraftentfaltung, Weitgriffigkeit und Vielschichtigkeit für einen einzelnen Spieler oft an die Grenzen des technisch Ausführbaren stoßen, tragen zugleich symphonisch-dramatische Züge und lassen sich leicht orchestriert vorstellen. Kurze Zeit später beschränkte sich Mossolow, der seine Werke auch selbst in Konzerten spielte und ein exzellenter Pianist gewesen sein muß, in seinen Klavierkompositionen allerdings ganz auf miniaturartige, aphoristische Formen: 1925 und 1926 entstanden die Deux Nocturnes (op. 15), 1928 die Drei kleinen Stücke

(op. 23a), 1929 die Zwei Tänze (op. 23b), 1930 die dreisätzigen Turkmenischen Nächte und die Zwei Stücke für Klavier (auf usbekische Themen) (op. 31). In zwei Klavierkonzerten (1927 und 1932) führte er das symphonische Element jedoch fort. Nach dem zweiten Klavierkonzert, dem kirgisische Themen zugrunde liegen, scheint Mossolow keine solistischen Werke mehr für dieses Instrument komponiert zu haben.

Musikalisch-pianistisch gesehen handelt es sich bei Mossolows Klavierwerken um hochvirtuose Musik, deren Verbundenheit mit der klassisch-romantischen Tradition bis hin zum Spätwerk Alexander Skrjabins (1871-1915) und Frühwerk Sergej Prokofjews (1891 bis 1953) unverkennbar ist. Dunkle, düstere Farben, die sich aus der Baßregion des Instrumentes lösen, geben vielfach ihren Grundton an. Trauer und Wut, Aggression und Depression begegnen einander auf engstem Raum und streben in Steigerungen von oft heftigster Leidenschaftlichkeit nach Ausgleich. Solche Stimmungen müssen nicht interpretatorisch erschlossen und in die Musik hineingelesen werden: Der Komponist selbst benennt sie durch zahlreiche Tempo- und Vortragsbezeichnungen, die das Maß, ja die Gewalt der hier ausgetragenen Spannungen erkennen lassen, Spannungen, die den von Mossolow in vorderster Front erlebten revolutionären Kampf der Entstehungszeit und die erlittenen körperlichen und seelischen Wunden unmittelbar zu spiegeln scheinen.

Neben den immer wiederkehrenden lugubre/trauernd und feroce/ wild, deren Dialektik mehrfach thematische Züge annimmt, findet man eine große Zahl zum Teil ungebräuchlicher Spielanweisungen wie irato/zornig, furioso/wild, infernale/infernalisch, tumultuoso/ tumultuös, rabbiosamente/wütend, severo/ernst, misterioso/geheimnisvoll, precipitoso/herabstürzend, elevato/erhaben, estatico/ ekstatisch, elegiaco/elegisch, ironico/ironisch, innocente/ unschuldig, con entusiasmo/mit Begeisterung, affanato/unruhig, sonoro/ klangvoll, sospirando/seufzend, impetuoso/stürmisch, affrettando/ eilend, con tutta forza/mit aller Kraft, languente/sehnsuchtsvoll, triomphale/triumphierend, con festività/mit Festlichkeit, grandioso/prachtvoll.

Der bekenntnishafte Ausdruckswillen, die Unmittelbarkeit, die in solcher Spannweite expressiver Bezeichnung sichtbar wird, wird allerdings auf zweierlei Weise von konstruktiven kompositorischen Elementen getragen, die ein Spannungsfeld zweiter Ordnung bilden: Zum einen werden ständig musikalische Zellen - im Umfang weniger motivartiger Noten bis hin zu mehrtaktigen Perioden - wiederholt, was sich grundsätzlich dem musikalischen Fluß entgegenstellt und zu einer terrassenförmig fragmentierten, in der Literatur gelegentlich als »Baukastensatz« klassifizierten Struktur führt. Zum anderen ist fast stets eine ostinate Motorik, ein sich wellenförmig beschleunigender und verlangsamender Puls zu spüren, der die Musik wie ein Herzschlag durchpocht und jede Wiederholung zugleich als ein Anwachsen oder Nachlassen emotionaler Energien erleben läßt.1

Alexander Mossolow wurde am 29. Juli (nach heutigem Kalender am 2. August) 1900 in Kiew geboren und wuchs in großbürgerlichen Verhältnissen auf. Nach der Übersiedlung nach Moskau (1904) war seine Mutter, Nina Alexandrowna Mossolowa (1882 bis 1953), zeitweilig als Koloratursopranistin am Bolschoi-Theater tätig; sein Vater, ein Advokat, starb bereits 1905. Nach mehrfachen Verweisen vom Gymnasium schloß sich Mossolow 1917, siebzehnjährig, den Ideen der russischen Revolution an und arbeitete im Sekretariat des Volkskommissars für staatliche Kontrolle. Dreimal hatte er Gelegenheit, Lenin persönlich eine Postsache zu überreichen, Begegnungen, die lebenslang in ihm nachwirkten. 1918 ging Mossolow als Freiwilliger zur Roten Garde und nahm an den Kämpfen gegen die Weißgardisten an der polnischen und ukrainischen Front teil. Er wurde zweimal verwundet und 1920 aus gesund-

heitlichen Gründen aus der Roten Armee entlassen, nachdem er zweimal mit dem Orden des Roten Kriegsbanners ausgezeichnet worden war.

Anfang der zwanziger Jahre arbeitete Mossolow zum Gelderwerb als Stummfilmpianist, und in diese Zeit fallen seine ersten Kompositionsversuche. Ab 1922 nahm er privaten Kompositionsunterricht bei Reinhold Glière und begann noch im selben Jahr ein Musikstudium am Moskauer Konservatorium (Komposition bei Nikolaj Mjaskowskij, Klavier bei Grigorij Prokofiew), das bis 1925 dauerte. Im selben Jahr wurde er Mitglied der westlich ausgerichteten Assoziation für zeitgenössische Musik, die von 1924 bis 1929 bestand, und bald darauf Leiter ihrer Sektion für Kammermusik. Von 1927 bis 1929 arbeitete er als Rundfunkredakteur.

Der Umfang von Mossolows Komponieren um die Mitte der zwanziger Jahre ist erstaunlich. Neben den genannten Klavierwerken schrieb er unter anderem Orchesterwerke (Die Dämmerung, Stahl mit der berühmten Eisengießerei), eine Symphonie (op. 20), zwei Opern (Der Held, Der Damm), eine Reihe von Liedern und zahlreiche Kammermusikwerke, darunter ein Streichquartett und ein Klaviertrio. Leider ging durch den Diebstahl eines Koffers mit Manuskripten um 1930 eine beträchtliche Anzahl von Werken verloren.

Besonders durch seine 1928 komponierte Eisengießerei wurde Mossolow international bekannt. Zahlreiche Orchester nahmen das Werk in ihr Repertoire. Allein das Orchester der Leningrader Philharmonie spielte es neunmal, im Westen zeigten Scherchen und Stokowski Interesse, in New York erklang es unter Toscanini. Mossolows Streichquartett op. 24 stand 1927 in Frankfurt am Main auf dem Programm des Festivals der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik und erhielt durch Adorno eine gnädige Besprechung.

Der Erfolg war jedoch nicht von Dauer. Ende der zwanziger Jahre sah sich Mossolow immer stärker Angriffen der Russischen Vereinigung proletarischer Musikschaffender ausgesetzt, einer dem Arbeiterkult verpflichteten Organisation, und Anfang der dreißiger Jahre waren kaum noch Werke von ihm zu hören. Der Komponist, dessen Schaffenskraft in dieser Zeit erheblich nachließ, mäßigte seine musikalische Sprache, bezog sich wieder vermehrt auf die unverfängliche Dur-Moll-Harmonik und wendete sich folkloristischen Quellen zu.

In den dreißiger und vierziger Jahren nahm Mossolow, der 1936 »wegen öffentlicher Trunksucht und Ruhestörung« zeitweilig aus dem Komponistenverband ausgeschlossen worden war, an mehreren Volksliedexpeditionen teil. Er dokumentierte die Folklore Turkmeniens, Kirgisiens, Baschkiriens, des nördlichen Osseniens, im Gebiet um Krasnodar und Stavropol und in der Karbadinischen Autonomen Republik. 1956 veröffentlichte er in der Zeitschrift »Sowjetskaja musyka« seine Erfahrungen und resümierte im Hinblick auf die Erhaltung des Volksmusikgutes: »Hilfe tut not - seriöse Hilfe, und vor allem: Sie ist unaufschiebbar.«

Aus der folkloristischen Arbeit ergaben sich neue kompositorische Anstöße. Mehrfach schrieb Mossolow Werke für verschiedene Nationalensembles oder arbeitete mit folkloristischen Elementen, so etwa in Orchestersuiten, Liedern, Chorwerken und Bearbeitungen. Daneben entstanden weitere Symphonien und Oratorien, zwei neue Opern, ein Harfen- und ein Cellokonzert und weitere Kammermusik.

Erst einige Jahre nach Mossolows Tod - er starb am 11. Juli 1973 in Moskau - setzte seine Wiederentdeckung ein. Die Werke aus den zwanziger Jahren, deren Originalität und zukunftsweisenden Charakter man jetzt erst richtig einschätzen lernte, spielten hierbei die zentrale Rolle. Insbesondere erschien die Eisengießerei wieder auf Konzertprogrammen in Frankreich, Polen, England und der CSSR, 1975 schließlich auch in Moskau unter Evgenij Svetlanov. 1976 publizierte Inna Barssowa ihre glänzende Studie über Mossolows Frühwerk in der Zeitschrift »Sowjetskaja musyka«, die in erweiterter deutscher Fassung 1979 im »Peters-Jahrbuch« (Leipzig) abgedruckt wurde.1