Nicolas Obouhow (1892-1954)

Aimons nous les uns les autres (1943)

La Paix pour les Réconcilié (1948)

Le Temple est mesuré, l'Esprit est incarné (1953)

Nikolaj (frz.: Nicolas) Obouhow, geboren am 22. (10.) April 1892 in Kursk, erhielt seine musikalische Ausbildung am Konservatorium in St. Petersburg bei Maximilian Steinberg und Nikolaj Cerepnin. 1913 heiratete er Xenia Komarovskaja; der Ehe entstammten zwei Töchter. Erste erhaltene Kompositionen (Klavierstücke und Lieder) entstanden nach 1910 und zeigen starke Einflüsse Skrjabins. 1915 entwickelte Obouhow eine eigene vereinfachte Notation, begleitet vom Konzept einer Gleichwertigkeit der zwölf temperierten Töne, das ihn zu Experimenten mit zwölftönigen Harmoniekomplexen (ohne Tonwiederholung) führte. Sämtliche späteren Werke Obouhows sind in dieser Notation abgefaßt, in der alle Versetzungszeichen durch + ersetzt sind. In die gleiche Zeit fallen erste Entwürfe des späteren Hauptwerks Kniga Zizei (Livre de Vie), die von Skrjabins Begriff des »Mysteriums« bestimmt scheinen.

Nach der Oktoberrevolution verließ Obouhow Rußland mit seiner Familie über Istanbul; 1919 ließ er sich in Paris nieder, wo er sofort Kontakt zu Maurice Ravel aufnahm, den die Skizzen des Livre de Vie sehr beeindruckten. Ravel verschaffte ihm finanzielle Unterstützungen, die ihm die weitere Arbeit am Livre ermöglichten. Um 1925-1926 lag das Werk weitgehend in einer Fassung für Soli, Chor und zwei Klaviere vor, die jedoch nicht abgeschlossen war und als Grundlage der geplanten Orchesterfassung dienen sollte. Teile des Anfangs (Préface) wurden 1926 in Paris in einer Orchesterfassung unter Leitung von Sergej Kusevickij aufgeführt. Im gleichen Jahr stellte Obouhow ein neuentwickeltes elektroakustisches Instrument vor, die »Croix sonore«, eine Art Vorläufer der Ondes Martenot; das erhaltene, heute aber nicht mehr benützbare Instrument befindet sich im Pariser Musée de l'Opéra.

Neben der ständigen Weiterarbeit am Livre schrieb Obouhow zahlreiche kürzere Werke für dieses Instrument, meist für die Pianistin Marie-Antoinette Aussenac de Broglie, die sich bis zu ihrem Lebensende für die Musik Obouhows einsetzte und die zentrale Interpretin seiner Werke wurde. Ansonsten ist die Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte schmal: 1936 wurde die Kantate Le Tout Puissant bénit la Paix beim Treffen der »Kämpfer für den Frieden« in Paris uraufgeführt, 1937 Hymne mondial bei der Pariser Weltausstellung. Um 1935 entstand ein Film über Livre de Vie von Germaine Dulac. Während des Kriegs zog sich Obouhow völlig auf die weitere Arbeit am Livre zurück; daneben veröffentlichte er den Traité d'harmonie tonale, atonale et totale (Paris: Durand 1946) und fertigte für diesen Verlag Neuausgaben älterer Werke (z. B. Chopin) in seiner Notation an, der sich zu dieser Zeit auch andere Verlagsautoren (z. B. Arthur Honegger) bedienten.

Ende 1949 wurde Obouhow bei einem Raubüberfall so schwer verletzt, daß er bis zu seinem Tod in Paris am 13. Juni 1954 nicht mehr komponieren konnte. Livre de Vie blieb daher Fragment, ein kaum überschaubarer Riesentorso in z. T. mehreren parallelen Fassungen; das über 2000seitige Manuskript befindet sich heute, wie die meisten erhaltenen Manuskripte Obouhows, in der Pariser Bibliothèque Nationale.

Obouhows frühes Schaffen in Rußland, das vor allem Klavierstücke und Lieder umfaßt, steht musikalisch unter dem Einfluß Skrjabins und seines Umkreises, ästhetisch im Kontext des russischen Symbolismus: Besonders die Lyrik Konstantin Bal'monts dient Obouhow zentral als Grundlage seiner Lieder. Obouhows Experimente mit Zwölftonkomplexen ab ca. 1914 sind ebenso wie seine vereinfachte Notation im Umfeld ähnlicher Versuche zeitgenössischer russischer Komponisten wie Efim Golysev, Nikolaj Roslavec oder Arthur Lourié zu sehen. Obouhows Werke nach 1914, z. B. die Poèmes Liturgiques für Sopran und Klavier (nach Texten Bal'monts, 1918), zeigen bereits seine experimentelle Ausrichtung: Der Gesangspart verlangt nicht nur extreme Lagen und Sprünge, sondern auch Glissandi, Pfeifen und Stöhnen und geht so über die ästhetischen Prämissen der Skrjabinisten hinaus.

Obouhows weiteres Werk wird beherrscht von dem unvollendeten Lebensprojekt Livre de Vie, das bereits in Rußland vor der Emigration konzipiert wurde und ab den zwanziger Jahren seine Arbeit dann nahezu ausschließlich dominierte. Alle späteren Werke stehen mit diesem von den Bildern der Apokalypse des Johannes inspirierten Riesentorso (mit französischen Texten von Bal'mont und Obouhow) in enger und monomanischer Beziehung. Inhaltlich verstärken sich im Livre die schon im Frühwerk angelegten religiösen und mystischen Züge zu einer immer individuelleren, messianischen Privatreligion. Zentrale Idee des als Gesamtkunstwerk mit szenischen Elementen konzipierten Livre ist die Versöhnung der Menschheit und die Botschaft eines universalen Friedens, ein »neues Evangelium«. Der Gesamtplan des Werks ist auf ikonenartigen Tafeln niedergelegt, die am Ende einer Aufführung der Hörer-Gemeinde vorgeführt werden sollten.

Der einzige offenbar vollendete Teil des Werks, Préface du Livre de Vie, beginnt mit pessimistisch-sentimentalen Fin de siecle-Versen Bal'monts, denen sich allmählich die mystischen Heilsgewißheiten einer österlichen Vereinigung von Hirt und Herde entgegenstellen, die eigenartigerweise (und zum Entsetzen damaliger Zuhörer) in Text und Melodie der »Internationale« münden. Musikalisch enthält der Livre eine Fülle experimenteller Techniken, die vor allem die Solopartien fast unausführbar machen: Die Männerstimme der Préface, die ständig zwischen extremsten Falsett- und Baßlagen pendelt, wurde daher bei der UA (Paris 1926) auf drei Sänger (Sopran, Tenor und Bariton) verteilt. Der letzte von Obouhow beendete größere Teil des Werks, Le Troisième et Dernier Testament (1946), stellt offenbar eine Art komprimierte Fassung des gesamten Livre dar.1