Carl Ruggles (1876-1971)

Evocations. Four Chants for Piano (1937-1943)

Carl (Charles Sprague) Ruggles, geboren am 11. März 1876 in East Marion an der Buzzards Bay/Mass., erhielt nach autodidaktischen Anfängen seit seinem siebten Lebensjahr Violinunterricht. Nach dem Tod der Mutter übersiedelte die Familie Anfang der neunziger Jahre nach Boston, wo er in Theaterorchestern arbeitete. Sein Geigenlehrer Felix Winternitz ließ ihn Fritz Kreisler vorspielen, der vorschlug, zum weiteren Studium - neben Violine auch Komposition - zu Dvorák nach Praha [Prag] zu gehen. Doch scheiterte das Vorhaben am plötzlichen Tod des Finanziers William Beal, und Ruggles nahm Privatunterricht bei Josef Claus (Musiktheorie) und John Knowles Paine (Komposition), unter dessen germanophilem Einfluß er seinen Vornamen in Carl umbenannte.

Um die Jahrhundertwende - Ruggles verdiente seinen Lebensunterhalt als Notenstecher und Musikkritiker verschiedener Cambridger Zeitschriften - wurden erstmals einige Klavierlieder aufgeführt, die er indes kurze Zeit später für ungenügend befand und vernichtete. 1903-1906 studierte er englische Literatur an der Harvard University und ging 1907 zusammen mit seiner Frau Charlotte, einer bekannten Gesangssolistin, nach Winona/Minn. Nachdem er ein halbes Jahr an der Mar d' Mar School of Music unterrichtet hatte, gründete er das Winona Symphony Orchestra, das er bis 1912 leitete.

Um 1916, etwa gleichzeitig mit seinem Einstieg in die Malerei, begann Ruggles mit der Komposition der (unvollendeten) Oper The Sunken Bell und zog ein Jahr später in der Hoffnung, die Metropolitan Opera Company für sein Werk zu interessieren, nach New York. Von nun an konnte er sich, von privaten Geldgebern großzügig unterstützt, ganz der Komposition und Malerei widmen. Bis 1931 entstand ein Großteil seines schmalen Gesamtwerks, uraufgeführt zumeist in den Konzerten der von Varèse gegründeten International Composers Guild. Trotz seiner zeitweiligen Mitarbeit in der Guild und freundschaftlichen Kontakten zu anderen Komponisten wie Cowell und Ives suchte Ruggles beharrlich, seine (nicht allein künstlerische) Eigenständigkeit zu wahren. Während Aufführungen in Europa sich mehrten, leitete er weiterhin fern der Metropole New York Laienorchester und -chöre. Immer wieder unterzog er die bereits abgeschlossenen Partituren einer Revision, so daß jede weitere Aufführung gleichsam den neuen Zwischenstand eines lebenslangen work in progress präsentierte.

Im April 1935 wurde am Bennington College die erste nur seinen Bildern gewidmete Ausstellung eröffnet. Als er 1938-1943 an der University of Miami Kompositionskurse gab, war die Malerei bereits ins Zentrum seines Schaffens gerückt. Von einer Vielzahl nach 1950 angekündigter Kompositionen wurde allein die dem Gedenken seiner Frau gewidmete Hymne Exaltation (1958) vollendet. Zur gleichen Zeit setzte die späte Anerkennung seiner Musik ein: 1953 Preis der National Association for American Composers and Conductors, 1954 Mitglied des National Institute of Arts and Letters, 1960 Ehrendoktorwürde der University of Vermont, 1964 Kunstpreis der Brandeis University. 1964 bestimmte der Staat Vermont seinen 85. Geburtstag zum Carl Ruggles Day. Ruggles starb 95jährig am 24. Oktober 1971 in Bennington/Vermont.

Ruggles' schmales, insgesamt nur acht veröffentlichte Kompositionen umfassendes uvre zeichnet sich durch einen dissonanzreichen, expressiven Gestus und eine dem chromatischen Total angenäherte Melodiebildung aus. Auch wenn in Angels für Blechbläser (1920/21) die Phrasen durchaus tonal wirken und mit einer Vielzahl diatonischer Dreiklänge angereichert werden (die letzte Fassung [1938] beginnt und endet sogar mit As-Dur), ist die harmonische Struktur der Werke grundsätzlich atonal. - Seine spätromantisch orientierten Frühwerke hat Ruggles vernichtet. Ebenso die Oper The Sunken Bell (1923 abgebrochen) nach Charles Henry Meltzers Übersetzung von Gerhard Hauptmanns Drama Die versunkene Glocke, die - wie einige erhaltene Skizzen belegen - den Kompositionsstand der mitteleuropäischen Musik um 1900 reflektiert.

Das erste von ihm akzeptierte Werk ist das Klavierlied Toys (1919). Die Gelegenheitskomposition zum vierten Geburtstag seines Sohnes Micah, in der cheery summons und choo-choo trains aus der tonalen Sphäre in eine atonal-dissonante Klangwelt prallen, wird zum Ausgangspunkt für den über Vierzigjährigen, in seine Musiksprache immer stärker polyphone Satzstrukturen einzubeziehen und die rhythmisch-metrische Ebene zu flexibilisieren. Der fünfstimmige Kanon in Men, dem 1. Satz der später ausgeschiedenen Orchestersuite Men and Angels (1920), bringt ein frühes Beispiel für Ruggles' atonalen Kontrapunkt, der nicht allein der Klangschärfung dient, sondern auch Gegenimpulse im rhythmischen Geflecht setzt. Bezeichnenderweise fällt die letzte Vokalkomposition Vox Clamans in Deserto (für Sopran und Orchester, 1923) auf Texte von Robert Browning, Meltzer und Walt Whitman ins Jahr des Abbruchs am Opernprojekt.

Weiterhin sind aber die Titel, die Ruggles seinen Kompositionen gibt, von literarischen Vorlagen angeregt. Eine Neigung des Komponisten zum neuenglischen Transzendentalismus, die die Wahl der Bezugsstellen nahelegt, ist indes nicht nachweisbar. Das Orchesterwerk Suntreader (1926/1931) geht auf Brownings Bezeichnung für Shelley in seiner Pauline zurück und bildete ursprünglich den letzten Satz von Men and Angels. Doch hielt dieser - wie so vieles - Ruggles' kritisch-perfektionistischem Anspruch nicht stand. In revidierter Form fand er dann Eingang in die Kammersymphonie Men and Mountains (nach einem Epigramm von William Blake, 1924). Der (neue) Suntreader für großes Orchester verbindet in exzeptioneller Weise Ruggles stilbildende Verfahrensweisen. Die Melodieführung mit ihren spannungsintensiven Intervallen ist vom Prinzip des Hinausschiebens der Tonwiederholung getragen und entwickelt durch Anhalten der Bewegung oder Verdichtung die von einem hohen Dissonanzgrad geprägten Akkordstrukturen. Ruggles verfährt allerdings nicht zwölftontechnisch. Die Reihe ist für ihn a dog chasing its tail. Die folgenden Werke Evoval Bons für Klavier (1935/1943; orch. 1954) und Organum für Orchester (1944/1947) nehmen bei einem immer artifizielleren Einsatz polyphoner Mittel die dissonante Schärfe zurück. Die sich hier ankündigende und von Ruggles geforderte neue simplicity ließ ihn indes seine nachlassende Schaffenskraft nicht mehr realisieren.1