text copyright Herbert Henck
Arnold Schönberg (1874-1951)
Fragmente von 17 Klavierkompositionen
(ca. 1894-1934)
Zu Beginn des sechsteiligen DACAPO-Zyklus piano adventures
mit Herbert Henck gelangen erstmals in Deutschland Arnold
Schönbergs 18 Fragmente zu 17 Klavierkompositionen zur
konzertanten Aufführung. Sie wurden 1975 in einem
Begleitband der Sämtlichen Werke Schönbergs
publiziert und hatten sich im Nachlaß des Komponisten
gefunden. Ihre zyklische Uraufführung fand am 9.
Februar 1996 in Paris im Rahmen des Festivals
»PRESENCES 96« statt.
Über Schönbergs Klavierwerk gibt es heute
neben mehreren monographischen Büchern eine Vielzahl
von Beschreibungen, Kommentaren, persönlichen
Erinnerungen und wissenschaftlichen Studien, wobei die
Emanzipation der Dissonanz von der Tonalität und
reihentechnische Aspekte häufig im Vordergrund stehen.
Im Überblick teilt sich Schönbergs Schaffen in
eine frühe Periode mit tonal gebundenen Kompositionen
(bis etwa 1907), eine zweite mit freitonalen Werken
(1908-1921) und eine dritte, in der zwölftönige
Grundreihen zur Anwendung kommen (1921-1951).
Diese dreigeteilte Entwicklung, in der die
Klavierstücke op. 11 und op. 23 zentrale Bedeutung am
Übergang zur zweiten und dritten Periode haben,
erscheint zwar folgerichtig und zielstrebig, verlief jedoch
keineswegs geradlinig. Die Quellenlage zeigt vielmehr ein
komplexes, oft verwirrendes Bild mannigfachster
kompositorischer Bestrebungen und Ansätze. Bedingt
durch den großen Umfang von Schönbergs
vielseitiger Produktion bedurfte es daher bereits eines
immensen Forschungsaufwandes, seinen Nachlaß zu ordnen
und zu katalogisieren, Datierungen vorzunehmen und Lesarten
zu erfassen. Diese für jede mündige
Auseinandersetzung grundlegenden Arbeiten sind heute zwar
weit fortgeschritten, doch längst nicht
abgeschlossen.
Schönberg, der Violine und Cello spielen gelernt hatte,
aber keine pianistische Ausbildung besaß, komponierte
nicht wie viele andere Komponisten am Klavier, sondern zog
dieses neben dem Harmonium oder der Mandoline eher zur
Prüfung des Gehörs heran. So nimmt es kaum wunder,
daß in seinem Klavierschaffen fast nirgends
traditionelle virtuose Elemente einer romantisch
geprägten Pianistik auftreten und sein stets
abstrakter, polyphoner und oft großgriffiger
Klaviersatz alles andere als bequem auszuführen
ist.
Abgesehen von zwei Orgelkompositionen schrieb Schönberg
für kein anderes Instrument Solomusik. An Klaviermusik
ist außer den erwähnten Werken und Fragmenten vor
allem sein Klavierkonzert von 1942 zu nennen sowie
Stücke für Klavier zu vier Händen bzw.
für zwei Klaviere. Darüber hinaus verwendete
Schönberg das Klavier immer wieder in seinem
Liedschaffen und für kammermusikalische Besetzungen.
Den gelegentlich solistischen Klavierstimmen in seinem
Pierrot lunaire (1912), der Ode an Napoleon (1942) und der
Phantasie für Violine mit Klavierbegleitung (1949)
kommt dabei herausragende Bedeutung zu.1
Die Fragmente aus dem Nachlaß
Neben seinen mit Opuszahlen bezeichneten und zu Lebzeiten
veröffentlichten Klavierstücken hinterließ
Schönberg drei vollendete Klavierstücke aus dem
Jahre 1894 sowie eine Reihe von Fragmenten zu
Klavierstücken, die erstmals 1975 im Rahmen der Ausgabe
seiner Sämtlichen Werke gedruckt und mit den
notwendigen philologischen Kommentaren versehen wurden.
Die frühesten Fragmente stammen noch aus der Zeit vor
der Jahrhundertwende, die letzten beiden vermutlich aus der
Zeit nach Schönbergs Emigration in die USA im November
1933; das kürzeste umfaßt nur drei Takte (Nr.
16), das längste zählt dagegen achtzig und
erstreckt sich über mehrere Druckseiten (Nr. 1). Viele
sind undatiert, so daß der Zeitpunkt ihrer Entstehung
durch äußere Umstände (Stellung in
Skizzenbüchern zwischen datierten Aufzeichnungen,
verwendetes Notenpapier) oder durch kompositorische
Gemeinsamkeiten mit gesicherten Quellen eingeengt werden
muß. Nur zwei tragen einen eigenen Titel: das Scherzo
für Clavier (Nr. 1) und das Klavierstück (Nr.
13).
Zusammengenommen bilden diese Fragmente einen
chronologischen Querschnitt durch etwa vierzig Jahre in
Schönbergs Schaffen, der alle wichtigen Stufen seiner
dramatischen künstlerischen Entwicklung
einschließt. Gleichsam auf engstem Raum und den
Verlauf von einundzwanzig Minuten verdichtet wird hier der
Wandel von Schönbergs musikalischer Sprache in geradezu
paradigmatischer Weise faßlich, ein Wandel, der
ansonsten sein gesamtes uvre übergreift und sich in
vielfältigsten musikalischen Stilen, Gattungen und
Besetzungen spiegelt.
Meine Interpretation versucht gleichwohl nicht, aus
Unfertigem Fertiges, aus Fragmenten Werke zu machen, auch
wenn mehrfach Entscheidungen über Tempi,
Lautstärken oder Anschlagsarten zu treffen waren. Diese
Entscheidungen blieben stets im vergleichs-weise engen
Rahmen interpretatorischer Einfühlung und
modi-fizierender Gestaltung und gingen nicht über
Entscheidungen hinaus, die in früheren Zeiten (in Bachs
Klaviermusik etwa) gewöhnlich dem Interpreten
überantwortet waren. Nirgends wurden indes Noten
hinzugefügt oder Versuche eines Weiter- und
Zuendekomponierens unternommen.
Ergibt sich aus der Reihung der Fragmente mehr als die Summe
ihrer Teile - nämlich eine Folge mit zyklischen
Qualitäten, in der die historische Fortschreitung zu
einem Element der Interpretation wird - , so scheint mir die
Ursache hierfür unmittelbar in Schönbergs
expandierendem Denken zu liegen, das gleichermaßen in
seinen abgeschlossenen Werken wie in den Fragmenten
erkennbar wird. Die Beschränkung auf Fragmente für
Klavier solo stellt sich dabei nicht weniger als eine
Rasterung der musikalischen Entwicklung dar aIs die
integrale Wiedergabe der Klavierstücke mit
Opuszahl.
Gegenwärtig mag es noch ungewöhnlich wirken,
Fragment gebliebene Werke in Tonaufnahmen bzw. konzertant
zugänglich zu machen, doch erscheint mir dieser Vorgang
grundsätzlich nicht weniger sinnvoll und anregend aIs
die inzwischen häufig geübte Praxis,
repräsentative Skizzen, Notizen und Entwürfe
bildender Künstler in Werkschauen einzubeziehen und mit
ihrer Hilfe den Werdegang des Schaffens zu dokumentieren.
Dasselbe Verlangen nach Vollständigkeit des
Überblicks ist in der Literaturwissenschaft und den von
ihr betreuten Kritischen Gesamtausgaben zu beobachten, in
denen das überhaupt Vorhandene, das Vermächtnis,
gesammelt, belegt und textkritisch gesichert wird.
Das Aussondern, Abbrechen, Verwerfen, Korrigieren,
Revidieren, Ersetzen und alle anderen Techniken
nachträglicher Veränderung sind bei vielen
Künstlern geradezu eine Selbstverständlichkeit,
ein unverzichtbarer Bestandteil geistiger Arbeit. Meine
Achtung vor einem Werk wurde durch die Kenntnis von etwas
vielleicht Verworfenem oder aus welchen Gründen auch
immer Unabgeschlossenem niemals geschmälert, sondern
stets empfand ich diese Ergänzung aIs modifizierend,
inspirierend und erhellend.
Im Falle der Fragmente Schönbergs reizte mich vor
vielen Jahren bereits die erste Lektüre, das einladend
gedruckte und oft bis in feinste Einzelheiten und
Spielanweisungen differenzierte Notenbild in hörbare,
klingende Musik umzusetzen. Ein Anspruch auf
Immergültigkeit oder Authentizität sollte und kann
mit dieser Interpretation ohnedies nicht erhoben werden;
jede erneute interpretatorische Beschäftigung mit
notierten Kompositionen erbringt notwendig neue,
individuelle Resultate - ob es sich um abgeschlossene oder
abbrechende Musik handelt. Die öffentliche Wiedergabe
zielt indes darauf, die Basis des Erfassens
innermusikalischer wie geschichtlicher Zusammenhänge zu
verbreitern, Intuition anzuregen, Verstehen zu fördern
und Interpretation aIs Form geistiger Auseinandersetzung zu
beleben.
Innerhalb der Fragmente gibt es Zusammengehörigkeiten
verschiedener Art. So wirken die ersten drei durch ihre
spätromantisch-orchestralen Farben aIs eine Gruppe, die
gleichermaßen das Vorbild von Wagner wie Brahms
erkennen läßt. Das vierte Fragment trägt die
Merkmale des Übergangs: Zwar ist es noch in B-Dur
notiert, doch haben sich die tonartlichen Bindungen
spürbar gelockert. Die Fragmente Nr. 5a und 5b, 6 und 7
gehören zum Umkreis der Klavierstücke op. 11, in
denen Schönberg die traditionelle Harmonik völlig
aufgibt. Bei dem Fragment Nr. 8 bestehen Zweifel, ob es sich
tatsächlich um den Beginn eines Klavierstücks oder
den (für Klavier notierten) Entwurf zu einer
Orchesterkomposition handelt. Fragment Nr. 9 gehört zu
den Bruchstücken, die am genauesten mit Tempi,
dynamischen Angaben und Artikulationsvorschriften bezeichnet
sind. In den Nrn. 10 und 11 gibt es Übereinstimmungen
mit dem ersten Stück aus op. 23. Die Fragmente Nr. 12
und mehr noch Nr. 14 zeigen Ansätze von musikalischen
Typen, denen man ansonsten nicht in Schönbergs
Soloklavierwerk begegnet: im ersten Fall einem geschwinden
Marsch von fast Prokofjeffschem Elan, im zweiten einer
virtuosen Introduktion im Stile einer Orgelphantasie, die
von einem vierstimmigen Fugato fortgesetzt wird. Die
Fragmente Nr. 13 und 15 bis 17 schließlich weisen aIs
gemeinsames kompositorisches Merkmal die
Zwölftontechnik auf, wobei Nr. 15 Fragment im doppelten
Sinne ist: die Noten brechen hier nicht nur, wie in allen
anderen Fällen, an einem bestimmten Punkt unvermutet
ab, sondern ab Takt 3 bleibt nur noch die Oberstimme aIs
einstimmige, gelegentlich mit Artikulationszeichen versehene
Melodielinie übrig.
Nr. 1 Scherzo für Clavier in Fis-Moll, Allegro molto,
Abbruch nach 80 Takten. Komposition: vor 1900, aufgrund
thematischer Ähnlichkeiten vermutlich aus der Zeit der
Drei Klavierstücke (1894).
Nr. 2 Fragment eines Klavierstücks in Cis-Moll, Leicht,
mit einiger Unruhe; rasch, fast durchaus leise/Stolz, nicht
rasch. Abbruch nach 77 Takten. Komposition: um oder eher vor
1900.
Nr. 3 Fragment eines Klavierstücks in As-Dur, Langsam.
Abbruch nach 46 Takten. Komposition: Dezember 1900/Februar
1901. Eine Randnotiz Schönbergs lautet: Fortsetzung
folgt . . . wenn ich nur wüßte, wie die
Fortsetzung sein wird! Zweimal habe ich mich darin schon
getäuscht. Jetzt wage ich nichts mehr zu hoffen, noch
zu befürchten. Folgt Fortsetzung? . . . Arnold
Schönberg.
Nr. 4 Fragment eines Klavierstücks in B-Dur, wenig
bewegt, sehr zart. Abbruch nach 26 Takten. Komposition:
zwischen Oktober 1905 und April 1906.
Nr. 5a und 5b Zwei Fragmente eines Klavierstücks.
Abbruch im
6. Takt (5a) und Abbruch nach 2 Takten (5b, Komposition:
Frühjahr bis Sommer 1909 (im Umkreis von op. 11).
Nr. 6 Fragment eines Klavierstücks. Abbruch nach 15
Takten. Komposition: Frühjahr bis Sommer 1909, (im
Umkreis von op. 11, möglicherweise die erste Version
von op. 11, Nr. 3).
Nr. 7 Fragment eines Klavierstücks. Abbruch nach 13
Takten. Komposition: Frühjahr bis Sommer 1909, im
Umkreis von op. 11, darüber hinaus
Übereinstimmungen mit dem ersten Stück für
Kammerorchester [ohne Opuszahl] von 1910.
Nr. 8 Fragment eines Klavierstücks. Abbruch im 20.
Takt. Komposition: möglicherweise um 1910.
Nr. 9 Fragment eines Klavierstücks. Mäßig,
aber sehr ausdrucksvoll. Abbruch im 10. Takt. Komposition:
März 1918.
Nr. 10 Fragment eines Klavierstücks. Langsam. Abbruch
im 10. Takt. Komposition: Sommer 1920.
Nr. 11 Fragment eines Klavierstücks. Abbruch nach 12
Takten. Komposition: Sommer 1920.
Nr. 12 Fragment eines Klavierstücks in H-Moll
(später H-Dur). Langsame Halbe. Abbruch nach 41 Takten.
Komposition: zwischen Januar und Juni 1925.
Nr. 13 Klavierstück, Viertel = 80. Abbruch nach 35
Takten. Komposition: Februar 1931. Dodekaphon.
Nr. 14 Fragment eines Klavierstücks. Sehr rasch -
Adagio [usw.]. Abbruch im 26. Takt. Komposition:
Juli 1931.
Nr. 15 Fragment eines Klavierstücks. Andante. Abbruch
im 17. Takt. Komposition: Barcelona, 10. Oktober 1931 (am
Tag, an dem das Klavierstück op. 33b vollendet wurde).
Dodekaphon.
Nr. 16 Fragment eines Klavierstücks. Abbruch im 3.
Takt. Komposition: frühestens ab November 1933
(Benutzung amerikanischen Notenpapiers). Dodekaphon.
Nr. 17 Fragment eines Klavierstücks. Moderato. Abbruch
nach
22 Takten. Komposition: frühestens April 1934
(unvollständige Datierung: April und Benutzung
amerikanischen Notenpapiers). Dodekaphon.1
Arnold Schönberg, geb. 13. September 1874 in
Wien, gilt heute aIs einer der einflußreichsten
Komponisten des 20. Jahrhunderts. Nach
spätromantisch-tonalen Anfängen in der Nachfolge
von Wagner und Brahms entwickelte Schönberg um 1908
eine freitonale Sprache, die eine tiefgreifende Revolution
der musikalischen Ästhetik auslöste. Mit seiner
Zwölftontechnik leitete Schönberg um 1923 eine
neue Organisationsform für die Tonhöhen einer
Komposition ein, die von seinen Schülern Alban Berg und
Anton Webern (Zweite Wiener Schule) und später
besonders in den seriellen Kompositionen der fünfziger
Jahre aufgegriffen und erweitert wurde.
Schönberg hatte aIs Autodidakt begonnen und nach der
Gymnasialzeit zunächst eine Banklehre absolviert. 1901
übersiedelte er nach Berlin, wo er eine
Kapellmeisterstelle am Überbrettl und eine
Unterrichtsstelle am Sternschen Konservatorium annahm. 1903
ging er nach Wien zurück, wo es bei der
Uraufführung seiner Streichquartette und der
Kammersymphonie zu ersten Skandalen kam (1907/08). 1911
beendete er seine Harmonielehre sowie seine Gurrelieder und
nahm nochmals eine Dozentur am Sternschen Konservatorium in
Berlin an. 1915 wurde er zum Militär einberufen und in
der Reserveoffiziersschule in Bruck an der Leitha
ausgebildet, im Herbst 1916 vom Militär freigestellt
und 1917 erneut einberufen. Nach Kriegsende gründete er
den Verein für musikalische Privataufführungen,
der sich vor allem zeitgenössischer Musik annahm. 1925
wurde er an die Berliner Akademie der Künste als Leiter
einer Meisterklasse für Komposition berufen, so
daß er 1926 zum drittenmal nach Berlin
übersiedelte. 1933 wurde er unter
nationalsozialistischem Einfluß aus seiner
Lehrtätigkeit an der Berliner Akademie entlassen, und
so emigrierte er über Paris in die USA. 1934 ließ
er sich in Los Angeles nieder, unterrichtete privat und
hielt Vorträge an der dortigen Universität. 1936
erhielt er einen Lehrstuhl an der University of California
in Los Angeles (UCLA), 1944 emeritierte er aus
Altersgründen. 1945 mußte Schönberg aus
wirtschaftlichen Gründen erneut Privatunterricht
erteilen. 1949 kam es zur Kontroverse mit Thomas Mann, der
in seinem Roman Doktor Faustus die Kompositionslehren
Schönbergs verarbeitet hatte. Schönberg starb am
13. Juli 1951 in Los Angeles.
Schönberg schrieb u. a. fünfzig Werke mit
Opuszahl, darunter Lieder mit Klavierbegleitung,
Orchesterwerke (zum Teil Kammerorchester), Opern,
Kammermusik, Chöre, Konzerte und Klaviersolowerke. Er
verfaßte mehrere Bücher und eine Vielzahl von
Aufsätzen; häufig schrieb er die Texte zu seinen
Vertonungen selbst.
1 Leicht geänderte Fassungen der von Herbert Henck
anläßlich der CD-Veröffentlichung
»Arnold Schönberg, Klavierwerke, Herbert Henck,
Piano, Wergo-CD 6268-2, © 1995« verfaßten
Einführung in »Arnold Schönbergs
Klavierstücke und Klavierfragmente«.
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