text copyright Herbert Henck
Georges Ivanovich Gurdjieff (ca. 1872-1949)

in Zusammenarbeit mit
Thomas de Hartmann (1886-1956)

Hymns from a Great Temple, 9 Klavierstücke (1926)
Georges Ivanovich Gurdjieff wurde um das Jahr 1872
als Sohn einer Armenierin und eines Griechen geboren und
starb am 29. Oktober 1949 in Paris. Seine Heimatstadt
Alexandropol, seit 1924 in Leninakan umbenannt, liegt in
Armenien, nicht weit vom Berge Ararat. Überblicken wir
Gurdjieffs Leben, teilt es sich in eine östliche und
eine westliche Hälfte, eine des Studiums und eine des
Unterrichts; eine Hälfte, in der er Erfahrungen aus den
unterschiedlichsten Quellen nah- und fernöstlicher
Religionen und psychologischer Systeme aufnimmt, und eine
Hälfte, in der er dieses Wissen in individueller
Verarbeitung und Erweiterung zunächst in den
europäischen, später auch den nordamerikanischen
Kulturraum einbringt.
Als Gurdjieff 1912 in Moskau und St. Petersburg in
Erscheinung tritt, ist sein Lehrgebäude so gut wie
abgeschlossen, auch wenn er noch bis Mitte der zwanziger
Jahre die Form der mündlichen Vermittlung wählt.
Davor liegt ein Vierteljahrhundert der Wanderschaft, die ihn
durch Griechenland, die Türkei, Ägypten, den
Sudan, Abessinien, nach Arabien, Syrien, ins Zweistromland,
nach Persien, Afghanistan und Indien führt, durch
Buchara, Samarkand und Taschkent bis nach Tibet, in die
Wüste Gobi und nach Sibirien. In Zentralasien zieht er
sich mehrere Jahre in Klöster von Sufis und Derwischen
zurück, studiert mit nicht nachlassender Energie
»an die zweihundert Religionen«, forscht
verschüttetem Wissen nach bei den Pyramiden von Gizeh,
den Ruinen Babylons, besucht die heiligen Stätten des
Islam in Mekka und Medina, beteiligt sich an Expeditionen,
die die Spuren versunkener Städte und vergessener
Bruderschaften zu erkunden suchen.
Selbst einem Schnittpunkt östlicher und westlicher
Kultur entstammend, lernt er die großen Religionen des
Christentums, des Judentums, des Islam, des Hinduismus, des
Buddhismus einschließlich ihrer oft schwer
zugänglichen esoterischen Zirkel aus eigener Anschauung
kennen, weiß auf ihren Kern zu dringen und sie in die
eigene Ideenwelt zu integrieren. Die Wege des Mönchs,
des Yogi, des Fakir, die Praktiken der Derwische, die Riten
der Anhänger Zarathustras sind ihm so geläufig wie
alle Arten psychologischer, meditativer, körperlicher,
auch okkulter Techniken, das Lesen fremder Gedanken, die
Deutung der Träume, die Hypnose, die Erweiterung des
Gedächtnisses, die Wirkung der Drogen.
All dies durchdenkt Gurdjieff mit seltener
Illusionslosigkeit und Orginalität und verflicht es zu
universalem Entwurf. Geformt durch jahrzehntelangen Kampf um
Wissen, das sich erlebt, nicht erliest, durch tausend
Gefahren der Reisen, Verwundung, Krankheit, Entbehrung und
selbst auferlegte Disziplin gebildet, gewinnt sein Charakter
an Charisma. Rigoros bis zur Rücksichtslosigkeit wird
sein Umgang mit Schülern, hart bis zur Grausamkeit sein
Anspruch. Doch da sich selbst dies als Teil einer Lehre
deuten läßt, die überreich ist an erregenden
Einsichten, nimmt die Schülerschar zu. Der Ruf des
Verführers wie der des Erleuchteten eilt ihm voraus,
doch aus dem Widerstreit der Meinungen erwächst mit
sein Ruhm, und seine Anziehungskraft auf Suchende
steigt.
Immer neue Schüler geraten in den Sog seiner
Persönlichkeit, Intellektuelle zumeist, die, rein
theoretischer Beschäftigung müde, aus Gurdjieffs
Einbeziehung körperlicher Arbeit und Übung
besonderen Gewinn zu empfangen vermögen. Auch Prominenz
schließt sich ihm an: So der umfassende Denker Peter
Demianovich Ouspensky, der Komponist Thomas de Hartmann, die
Schriftstellerin Katherine Mansfield, die Begründerin
und Herausgeberin der berühmten Zeitschrift The Little
Review Margaret Anderson, der Herausgeber und
Vorkämpfer der Psychoanalyse Alfred R. Orage, Frank
Lloyd Wright, der epochale Architekt, John G. Bennett,
Schüler Einsteins und Erforscher esoterischer Systeme,
später Pierre Schaeffer, der Mitbegründer der
musique concrète, Peter Brook, der Theater- und
Filmregisseur, Keith Jarrett, der Jazz-Pianist.
Heute gibt es Gurdjieff-Gruppen nahezu in der ganzen
westlichen Welt, in Japan wie in Südamerika. Gurdjieffs
Schriften wurden in mehrere Sprachen übersetzt, die
Schriften über ihn haben das halbe Tausend längst
überschritten. Was nach seinem Tod überdauert, ist
ein im besten Wortsinn seltsames, in vielen Punkten
unzusammenhängendes, erklärungsbedürftiges,
gleichwohl in sich nie widersprüchliches System.
Das Leben des Menschen sieht es einbezogen in ein kosmisches
Geschehen, durch das es nahezu gänzlich determiniert
wird. Lösung aus diesem Schicksal gibt es nur durch
ständige körperliche und geistige Übung,
durch allumfassende Bewußtheit. Diese Übung
besteht in einer unablässigen Emanzipation von
Körper und Geist, gleichermaßen durch eine aktive
Vergeistigung des Seins wie durch willentlich
äußerst bewußte Fixierung oder Bewegung des
Körpers hervorgerufen. Die konkrete Arbeit mit den
Schülern hat ihre Mitte in einer Reihe von
Bewegungsfolgen und sakralen Tänzen, die Gurdjieff
choreographisch zusammenschließt zu einer Art Ballett
(Der Kampf der Magire), das einerseits die kosmische
Abhängigkeit zur Darstellung bringt, dem andererseits
die therapeutische Aufgabe zufällt, den Automatismus in
der Beziehung von Körper und Geist bis zur Autonomie
beider aufzulösen und damit den Menschen endlich
entscheidungsfrei und handlungsfähig zu machen.
Gurdjieff läßt die teilweise äußerst
komplizierten Bewegungsübungen zur Begleitung einer
Musik ausführen, deren Melodien er entweder aus seiner
kaukasischen Heimat oder von seinen Reisen erinnert,
gelegentlich wohl auch selbst erfindet, und die sein
langjähriger Schüler, der russische Komponist
Thomas de Hartmann, aufzeichnet, harmonisiert, orchestriert
oder selbst auch auf dem Klavier spielt. In diesem
Zusammenhang hat Gurdjieffs Musik durchaus praktische
Bedeutung als Mittel zur Konzentration.
Darüber hinaus zieht Gurdjieff die Musik, oder besser:
eine ihrer Grundlagen, zentral für die Erklärung
seiner spekulativen Kosmologie heran, wenn er in den Stufen
einer Dur-Tonleiter nicht nur eine präzise
Entsprechung, sondern - unter der Prämisse der
Ungleichmäßigkeit von Schwingungen - das Wirken
ein und desselben Gesetzes erkennt, von dem Makro- wie
Mikrokosmos ebenso beherrscht werden wie unsere
alltäglichen Handlungen.
Beide Formen, Musik zu verstehen und zu gebrauchen, sind in
unserer westlichen Kultur, deren Musikverständnis
zwischen einem möglichst vollständigen Nachvollzug
komponierter Beziehungen und ihrem Gebrauch als eines zu
Aufregung oder Entspannung verhelfenden Narkotikums pendelt,
zumindest ungewöhnlich, und wo rudimentär, da kaum
mehr als unterbewußt vorhanden.1
Thomas Alexandrovich de Hartmann ist 1886 auf dem
elterlichen Gut in Khoruzhevka in der Ukraine geboren. Seine
Familie gehört der russischen Aristokratie an, sein
Großonkel ist der Philosoph Eduard von Hartmann, der
vor allem durch sein Jugendwerk Philosophie des
Unbewußten berühmt geworden war. Bereits mit vier
Jahren improvisiert de Hartmann auf dem Klavier. Als er neun
Jahre ist, stirbt sein Vater, und die Mutter schickt ihn auf
die Militärschule nach Petersburg. Deren Leiter erkennt
schnell die reiche Begabung de Hartmanns und gibt ihm
Gelegenheit, in seiner Freizeit Musik zu studieren. So
erhält er Unterricht in Harmonielehre und Kontrapunkt,
zunächst bei Arenskij, nach dessen Tod bei Tanejew,
beide auch Lehrer von Rachmaninow und Skrjabin. Die
pianistische Ausbildung vermittelt Annette
Essipow-Leschetizky, die auch Prokofjew unterrichtet und die
über eine reiche Kenntnis theosophischer Schriften
verfügt.
Achtzehnjährig legt de Hartmann die
Abschlußprüfung am Petersburger Konservatorium
ab. Sein Wunsch, nach München zu gehen, um bei dem
Richard-Wagner-Schüler Felix Mottl Dirigieren zu
studieren, wird erfüllt durch eine persönliche
Begegnung mit dem Zaren Nikolaus II., der de Hartmann vom
Militärdienst freistellt.
In München erfährt de Hartmann seine
stärksten Eindrücke aus der bildenden Kunst. Er
findet Anschluß an den Kreis um Wassily Kandinsky, mit
dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbindet. Zum
Almanach Der Blaue Reiter steuert de Hartmann einen Aufsatz
Über Anarchie in der Musik bei, für Kandinskys
Bühnenkomposition Der Gelbe Klang übernimmt er den
musikalischen Teil.
Nach seiner Rückkehr nach Petersburg nimmt er aktiven
Anteil am dortigen kulturellen Leben und verheiratet sich
mit der Sängerin Olga Arkadiewna de Schumaker, der
Tochter eines hohen Würdenträgers der Regierung.
Für kurze Zeit kehrt er nach München zurück,
muß aber bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges wieder
nach Rußland, wo er eingezogen wird.
Ende 1916 hört de Hartmann erstmals durch einen Freund
von Gurdjieff. Dieser bringt de Hartmann auf seinen Wunsch
hin mit Gurdjieff zusammen, und Gurdjieff akzeptiert sowohl
de Hartmann wie seine Frau als Schüler. Die Jahre 1917
bis 1929, in denen die de Hartmanns mit Gurdjieff
zusammenlebten, hat Thomas de Hartmann in einer posthum
veröffentlichten Autobiographie beschrieben (Our Life
With Mr. Gurdjieff). Kurz vor Ausbruch der russischen
Oktoberrevolution folgen die de Hartmanns Gurdjieff nach
Essentuki im Kaukasus und beginnen, an der
»Arbeit« teilzunehmen.
Immer auf der Flucht vor den Unruhen der Revolution gelangen
sie schließlich im Gefolge Gurdjieffs nach Tiflis, wo
die Verhältnisse noch erträglich sind. Hier trifft
de Hartmann seinen Freund Nikolaj Tscherepnin wieder, den
Leiter des dortigen großen Konservatoriums, der de
Hartmann unverzüglich eine Kompositionsklasse anbietet.
In dieser Zeit in Tiflis weitet de Hartmann seine
musikalischen Aktivitäten stark aus. Neben der
Begleitung der Gurdjieffschen Bewegungsübungen auf dem
Klavier bereitet er Kammermusikabende vor, unterrichtet
privat wie am Konservatorium, komponiert, studiert mit
seiner Frau Lieder ein, hält Vorträge.
Gurdjieff gründet hier in Tiflis nach langen
Vorbereitungen sein Institut zur harmonischen Entwicklung
des Menschen, muß jedoch bald mit seinen
Anhängern nach Konstantinopel weiterziehen, als sich
die politische Lage erneut zuspitzt. Anfang der zwanziger
Jahre führt der Weg zunächst weiter nach Berlin,
von wo aus Gurdjieff versucht, in England Fuß zu
fassen. Olga de Hartmann, Gurdjieffs Vertraute und
Sekretärin, findet schließlich bei Paris in
Fontainebleau-Avon in einer alten Prieuré
[Abtei] eine bleibende Unterkunft für
Gurdjieffs Institut, wohin man im Juli 1922
übersiedelt.

Um die Arbeit des Instituts zu unterstützen, hatte de
Hartmann zu dieser Zeit begonnen, Filmmusiken zu schreiben
und hatte im Verlagshaus Belaieff einen Direktorenposten
übernommen. Ende der zwanziger Jahre gestaltet sich das
Verhältnis zu Gurdjieff zunehmend schwieriger;
Gurdjieff »vertreibt« seine Schüler. Es kommt
zur endgültigen Trennung, und die de Hartmanns
übersiedeln nach Garches in der Nähe von Paris.
Hier schreibt de Hartmann zunächst weiterhin
Filmmusiken, bis er finanziell so unabhängig ist, sich
ausschließlich eigenen kompositorischen Vorstellungen
zu widmen.
Obgleich Gurdjieff, der nach der Auflösung des
Instituts und dem Verkauf der Prieuré in Paris lebt,
die de Hartmanns mehrfach auffordert, zu ihm
zurückzukommen, lehnen sie ab. Doch hatte sich das
Gefühl der Dankbarkeit gegenüber Gurdjieff nicht
gewandelt: Er blieb immer unser Lehrer, und wir blieben
immer voll Vertrauen in seine Lehre, schreibt Olga de
Hartmann später. Erst auf dem Totenbett sehen die de
Hartmanns Gurdjieff wieder, 1949, zwanzig Jahre nach der
Trennung. De Hartmann bereitet eine Grabrede vor, die der
Priester an Gurdjieffs Sarg verliest. Noch im selben Jahr
errichtet Thomas de Hartmann Gurdjieff ein musikalisches
Denkmal mit einem großen Klavierzyklus, dem er den
Titel gibt Fünf Bände - Gurdjieff zum
Gedächtnis. 1950 wandern die de Hartmanns in die USA
aus, wo de Hartmann seine letzten Lebensjahre verbringt und
er 1956 in Princeton, N. J., drei Wochen vor seinem ersten
öffentlichen Auftreten in der New Yorker Town Hall,
stirbt.
Olga de Hartmann überlebte ihren Mann um mehr als
zwanzig Jahre. Im Südwesten der Vereinigten Staaten
bildete sie zuletzt eine Schülergruppe aus, wobei sie
vorwiegend mit dem musikalischen Erbe ihres Mannes
arbeitete. - Thomas de Hartmann schrieb neben 52 Filmmusiken
an die 90 Werke mit Opuszahl, darunter zahlreiche Ballette,
drei Opern, vier Sinfonien, sieben Instrumentalkonzerte,
Klaviermusik, Kammermusik und Lieder.
Bei dem Klavierzyklus Hymns from a Great Temple (Hymnen aus
einem großen Tempel) muß eine zweifache
Autorenschaft angenommen werden, nämlich
gleichermaßen die von Thomas de Hartmann und Georges
I. Gurdjieff. Gurdjieff erinnerte von seinen Reisen durch
den Orient und Asien zahllose Melodien, die er Thomas de
Hartmann vorpfiff oder mit einem Finger auf dem Klavier
vorspielte. De Hartmanns Aufgabe bestand darin, diese
Melodien in unserem westlichen System zu notieren, zu
harmonisieren und teilweise auch zu instrumentieren -
Arbeiten, die über ein normales Arrangieren
hinausgingen und ihn zum Mitautor werden ließen.
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