Hans Otte (1926)

Das Buch der Klänge (1979-1982)

Die Aufführung von Hans Ottes wohl bekanntestem Werk in der zeitlichen Nähe seines siebzigsten Geburtstages soll denjenigen Künstler ehren, der wie kein zweiter seit Ende der fünfziger Jahre noch immer nachwirkende Akzente im Bremer Musikleben setzte. Ottes vor gut fünfzehn Jahren komponiertes Buch der Klänge fand seit seiner vom amerikanischen Komponisten Tom Johnson im folgenden beschriebenen Uraufführung weltweite Resonanz.

Piano Man (1982)

Sehr lebhaft sind mir noch das Mauricio-Kagel-Programm und die Premiere des Cage-Werkes für fünf Orchester in Erinnerung, die ich im letzten Herbst während des Festivals in Metz gehört hatte. In der Hoffnung auf ähnliche Ausbeute besuchte ich also abermals die in der kleinen französischen Stadt durchgeführten »Rencontres Internationales de Musique Contemporaine«. Wieder gab es etwa zehn Konzerte an vier Tagen, erneut füllten sich die Säle mit den Neue-Musik-Profis und -Fans aus ganz Frankreich und Westdeutschland, wieder ging die Hälfte der Aktivitäten an mir vorbei, und wieder verließ ich diesen Ort mit einer ganz besonderen Erfahrung, von der ich weiß, daß sie mich noch lange begleiten wird

- der Klavierabend mit dem Komponisten Hans Otte.

Otte, ein Mann in seinen Fünfzigern, Schüler von Gieseking und Hindemith, hatte es schon früh in seiner Karriere zu Anerkennung als Pianist und Komponist gebracht und im Jahre 1959 die Leitung der Musikabteilung Radio Bremens übernommen. Heute scheint er dieser Funktion wegen eher bekannt zu sein als für sein künstlerisches Werk, was damit zusammenhängen mag, daß er kaum Zeit hatte, sich auf die Komponistenkarriere zu konzentrieren. Sein kreatives Arbeitsfeld reicht weit - von eher konventionellen atonalen Stücken über Klang/Licht-Environments bis hin zu Videoproduktionen, weswegen es Hörern schwerfällt, ihn in eine bestimmte Schublade zu stecken. Leute, die eine gewisse Zeitlang präsent gewesen sind, laufen stets Gefahr, ignoriert und abgehakt zu werden. Das trifft wohl in Europa noch stärker zu als in Amerika, denn ich registrierte, daß einige Gäste, die andere Festivalkonzerte enthusiastisch verfolgt hatten, sich nicht gemüßigt fühlten, beim Otte-Abend zu erscheinen. Ich wußte nicht, was ich nun davon halten sollte und habe ohnehin eine Abneigung gegen Schubladendenken, ging hin und erlebte prompt das wahrscheinlich gedankentiefste, bestvorgetragene und inspirierendste Konzert des gesamten Festivals.

Das Buch der Klänge besteht aus zwölf Stücken und dauerte in dieser Aufführung ungefähr achtzig Minuten. Man könnte das Werk vom Stil her als minimalistisch bezeichnen, da jedes Stück von einfacher, durchgängiger Struktur ist und ohne Steigerung bzw. Entwicklung im traditionellen Sinne auskommt. Es gibt wenige exakte Wiederholungen, dafür überwiegen die Konzentration auf Harmonik und ein gesundes Verhältnis zur Tradition. Da sich die Texturen stufenweise von einem Notationsblock zum nächsten bewegen, liegt die Musik klanglich manchmal näher an Chopin als an Steve Reich. Sahen sich die amerikanischen Minimalisten als Innovatoren und mieden Bezüge zur Vergangenheit strikt, so ist Otte ein Synthetiker, der auf höchst intelligente und einfühlsame Weise alte und neue Ideen zusammenbringt.

Otte begann sein Buch der Klänge im Jahre 1979 und schloß es erst in diesem Jahr [1982] ab. Offenbar hat es ihn sehr lange beschäftigt. Er trug das Stück großenteils auswendig vor und wirkte dabei stets heiter, beständig und sicher. Es klang, als ob er diese Stücke schon jahrelang gespielt hätte, was natürlich stimmte. Aber auch die Musik selbst schien von heiterer Gelassenheit und genau zu wissen, was sie sagen wollte. In allen Details, selbst bei dynamischen Feinschattierungen, subtilen Harmonieverschiebungen und bei der Plazierung kontrastierender Elemente hatte ich stets das deutliche Gefühl, daß der Komponist vor endgültigen Entscheidungen zahllose Alternativen ausprobiert haben mußte.

»Die Komposition ist all denen gewidmet, die nahe an den Klängen sein möchten, so daß sie auf der Suche nach dem Klang der Klänge, dem Geheimnis des Lebens, ihre eigene Resonanz freilegen können« - meine englische Übersetzung ist zugegebenermaßen unbeholfen, aber die Richtung stimmt wohl. Das Stück erkundet Möglichkeiten des Klanges auf einer vergleichsweise tiefen Ebene, und beim Zuhören merkte ich, daß ich dermaßen intensiv in Kontakt zu »Klang« kam, wie ich es zuvor nicht erlebt hatte.

Nicht, daß der Komponist neuartige Klangfarben für das Klavier erkundet hätte; nahezu die gesamte Musik spielt sich im oberen Mittelregister ab, und auch die Texturen selbst bleiben recht konventionell. Vier der Stücke (3, 4, 8, 12) bestehen bloß aus Akkordfolgen, drei (2, 7, 9) folgen einfachen Arpeggio-Mustern, vier (1, 5, 10, 11) wiegen zwischen zwei Sonoritäten hin und her, und eines (6) ist eine Art Ein-Finger-Melodie. Dennoch wohnt der gesamten Musik eine Frische inne, was gewiß mit unüblichen harmonischen und formalen Abläufen innerhalb einzelner Stücke als auch mit Wechselbeziehungen zwischen den Sätzen zu tun hat. Wenn der Komponist einen neuen Abschnitt begann, hatte ich häufig das Gefühl, wieder in Tempo, Register oder den harmonischen Bereich eines der vorherigen Stücke einzutauchen. Das Buch der Klänge ist sicher nicht sehr rigide strukturiert, aber es gibt genügend Bindeglieder zwischen den Sätzen - es scheint gerade so, als ob jeder dem nächsten von sich erzählt hätte...

Bestimmte Ereignisse innerhalb einzelner Sätze klingen bisweilen sehr ungewöhnlich und effektvoll. Das recht flotte Tempo des ersten Satzes beispielsweise wird abrupt von Abschnitten unterbrochen, die langsam sind. Das zweite Stück unterbricht sich selbst mit einer kleinen Kadenz, so wie man sie manchmal in Bachs Präludien findet, aber in diesem Zusammenhang wohl kaum erwartet hätte. Im fünften Stück werden der ansonsten weichen Textur hin und wieder Akzente aufgesetzt. Die modalen Harmonien im achten Stück kippen zeitweise in eine seltsame Chromatik um. Das Dahinströmen beider Stücke wird an einem bestimmten Punkt plötzlich von sechs langsamen Akkorden abgebrochen. Das zwölfte Stück bewegt sich im oberen Register, bis plötzlich vier weiche Baßtöne eindringen, die nicht von dieser Welt scheinen.

Ich konnte mir jetzt kaum noch vorstellen, daß es in den frühen Siebzigern so aussah, als ob das gute alte Klavier am Ende sei, nach Jahren, in denen das arme Instrument mit Flaschen und Holz-

hämmern malträtiert, Mikrophonen aller Art verstärkt und mit Hilfe von Zerkloppt-das-Instrument-Stücken weggetrauert wurde - es war damals wirklich schwierig geworden, den guten alten Chopin-Sound noch ernst zu nehmen, was selbst für die populäre Musik galt, in der elektrische Keyboards nahezu vollständig die Rolle des Konzertflügels übernommen hatten. Mittlerweile [1982] kann man wieder mit einer gewissen Regelmäßigkeit akustisches Klavier vernehmen, sogar auf Mittelwellesendern. Im Bereich der experimentellen Musik scheint das Soloklavier z. Zt. sogar ausgesprochen gut zu fahren.

Zwei meiner absoluten Lieblingsstücke der letzten Jahre sind Frederic Rzewskis The People United und William Duckworths Time

Curve Preludes, beides umfänglichere Werke für Klavier solo. Dieser kleinen Liste werde ich jetzt Ottes Buch der Klänge hinzufügen. Es gibt heutzutage durchaus einige recht spannende Bereiche wie Computer-Musik, Orchersterwerke, Opern, Streichquartette, Klanginstallationen, Solostimme; aber mir kommen keine drei neueren Stücke dieser Genres in den Sinn, die mich so stark berührt hätten wie eben diese drei Klavierwerke. Chopins Instrument ist lebendig, frisch und kreativ wie eh und je - genau wie Hans Otte.1

Klavier war schon immer mein Instrument. Bereits mit fünf Jahren fing ich an zu spielen und Unterricht zu nehmen. Mit acht Jahren entstanden dann die ersten Kompositionen, die selbstverständlich für das Klavier geschrieben waren. Mit zwölf Jahren kam ich aufs Konservatorium in Breslau, um Kontrapunkt und Harmonielehre zu studieren; mit vierzehn wurde ich Schüler des renommierten Pianisten und Pädagogen Bronislav von Pozniak. Zur gleichen Zeit entstand auch neben einer Vielzahl von Preludes und Bagatellen für Klavier und einer ersten Symphonie ein erstes Klavierkonzert. Nach dem Krieg nahm ich meine Studien in Komposition, Dirigieren und Klavier wieder auf. Mit Hilfe des Klaviers - durch Tanzmusik und Musik für Tanzschulen - konnte ich mich über Wasser halten.

Um so willkommener war dann ein einjähriges Stipendium an der Yale University in New Haven in den USA, wo auch Paul Hindemith unterrichtete. Mit ihm als Dirigenten und den Berliner Philharmonikern konnte ich dann ein paar Jahre später die Schallplatte seiner Vier Temperamente machen; auch eine Tournee mit den »Bambergern« unter seiner Leitung schloß sich an. Und neben einer Reihe von Solokonzerten hatte ich auch das Glück, namhafte Sänger begleiten zu können, so z. B. Lenora Lafayette, eine ganz fabelhafte Sängerin mit Klängen in ihrer Stimme, wie ich sie kaum wieder je hören konnte, oder auch mit Bruce Boyce, einem großartigen Interpreten des deutschen Liedes.

Mit dem Staatsorchester Stuttgart unter Ferdinand Leitner führte ich in den Symphoniekonzerten meine »realisationen« für Klavier und Orchester auf, meine passages für Klavier und Orchester ein paar Jahre später mit Ernest Bour und dem Südwestfunkorchester in Donaueschingen. In diese Zeit fallen auch eine ganze Reihe von Klavierwerken oder Werke, in denen das Klavier eine besondere Rolle spielt: Meine Montaru-Musik für Willy Baumeister für zwei Klaviere, Blechbläser und Schlagzeug. Die tropismen für Klavier solo, in denen ich schachbrettartig die einzelnen Klänge zu freiem Spiel anbot. In dromenon für drei Klaviere, deren Uraufführung die Gebrüder Kontarsky in Hamburg spielten, schickte ich diese drei großen Könner auf verschiedene »Laufbahnen«. Interplay für zwei Pianisten spielte ich zusammen mit Frederic Rzewski in Rom, in Paris, in Baden-Baden, in Köln, in Hannover zusammen mit Klavierwerken von Feldman und Christian Wolff, zu einer Zeit (in den frühen sechziger Jahren), in der das noch nicht so üblich war.

Face à face für Klavier und Tonband folgte; ein Werk, dessen Uraufführung ich auf der Biennale in Zagreb spielte und dessen Experiment darin bestand, mikroskopisch aufgenommene Klavierklänge mit akustischen Klängen zu vereinen. Auch sind drei szenische Arbeiten ohne das Klavier gar nicht denkbar gewesen; so z. B. daidalos für zwei Klaviere, Harfe, Gitarre und zwei Schlagzeuger (1960-1961), modell - eine Probe aufs Exempel (1963-1965) für zwei Sänger und zwei Pianisten; schließlich nolimetangere, ein Theater für eine Schauspielerin, einen Pianisten, Film und Tanz (1966). Nach einer längeren »Klavierpause« entstand dann in den Jahren 1979 bis 1982 mein Buch der Klänge, ein etwa einstündiger Zyklus aus zwölf verschiedenen Klavierstücken. Die Uraufführung spielte ich auf dem Internationalen Festival der Neuen Musik in Metz, Frankreich, das der Komponist Claude Lefèbvre aus dem Nichts stampfte. Seitdem spielte ich dieses Werk - für mich jedesmal ein so recht lustvolles Erlebnis - in vielen Konzerten, auf vielen Festivals neuer Musik, in vielen Ländern und auf manchem Kontinent. [...]2

Hans Otte, deutscher Komponist, Pianist und Theaterautor, wurde am 3. Dezember 1926 in Plauen (Vogtland) geboren. Sein Vater war Apotheker. Otte studierte ab 1946 in Weimar. In Komposition unterwies ihn Paul Hindemith, am Klavier war u. a. Walter Gieseking sein Lehrer, an der Orgel Fernando Germani. Als Dirigent wurde er bei Hermann Abendroth ausgebildet. Studienreisen führten Otte in die USA und nach Italien. Ein Stipendium der Villa Massimo, Rom, hatte er 1959 erhalten.

Der Pianist Otte, der viel und mit renommierten Orchestern im In- und Ausland konzertiert hat, übernahm 1959 die Leitung der Hauptabteilung Musik bei Radio Bremen, die er 1984 aus gesundheitlichen Gründen abgab. In diesen Jahren hatte sich der Initiator und Organisator des Bremer pro-musica-nova-Festivals (seit 1961) einen Namen als Wegbereiter der Neuen Musik und Vermittler Neuer Kunst gemacht. Hier traten nach Donaueschingen und Darmstadt zum ersten Mal John Cage und La Monte Young auf, wurden Performance- und Happeningformen aufgestellt, spielte sich eine anhaltende Auseinandersetzung mit der außereuropäischen Musik ab, deren authentische, nicht kommerzialisierte Gruppen Otte immer wieder nach Bremen einlud. Die Liste der dort uraufgeführten Werke von Ligeti, Stockhausen, Nono, Kagel oder Cage ist lang. Die Tendenzen, die Otte in Bremen zu Wort kommen ließ, wurden stilbildend, die Literaten wichtig, nachdem sie in Ottes offenen Bremer Kunsträumen ihr Forum gefunden hatten. Gleichzeitig hatte Otte 1961 das Festival für alte Musik ins Leben gerufen, für das er die seinerzeit noch ausschließlich alternativen Gruppen der historischen Aufführungspraxis einlud: Nikolaus Harnoncourt hat ein erstes entscheidendes Podium in Bremen gehabt.

Neben der internationalen pianistischen Laufbahn und Erfahrungen mit Musikpraxis, die Otte u. a. am Theater als Solorepetitor gesammelt hatte, wurde er immer intensiver als Komponist tätig. An den Anfang seines uvres stellt er selbst das 1959 entstandene Klavierstück tropismen, das sich bereits Grundkategorien abendländischer Musik verweigert. Der Farbwert des Einzelklanges, seine konfliktlose Zartheit und damit Verletzbarkeit, war hier schon als Ottes sehr persönliche Sprache zu erkennen. Der Weg zum Einklang, der für Otte identisch ist mit der Suche nach dem ungeteilten Ganzen, wie er es nannte, läßt sich aus den Titeln seiner Werke ablesen: Buch für Orchester, text, biographie, schrift, ja:nein, körpermusik, What's the Difference between You and Me oder ich:atemraum sind Otte-Stücke überschrieben.

Neben komponiertem Klangforschen und Klangsuchen hat sich Otte viel mit instrumentalem Theater beschäftigt - seine szenischen Arbeiten machen etwa ein Drittel des Gesamtwerkes aus -, und hier wird aus dem Zusammenhang von Text, Bewegung, Bild und KIang leer gewordene Sprache als kaschierte Sprachlosigkeit zu enttarnen versucht. Seit On Earth, einer »begehbaren Klanglandschaft von zweiunddreißig Klangobjekten mit Plätzen und Wegen und vier Lautsäulen drum herum« aus dem Jahre 1978 stand für den Komponisten die Zusammenarbeit mit dem Publikum, die Umkehrung von Produzent und Rezipient im Vordergrund, wurde die Rezeptions- und Kommunikationsfähigkeit des Publikums struktureller Bestandteil seiner Arbeiten. Daneben gewann, angeregt durch die Beschäftigung mit dem Zen-Buddhismus und mit der taoistischen Philosophie, die Suche nach dem historisch unbelasteten KIang an Raum. Manifestiert sind diese Zielvorgaben u. a. im inzwischen [...] in aller Welt gespielten Buch der Klänge (1979-1982), das 1982 in Metz zur Uraufführung kam. So asiatisch Ottes Musik in ihrer gedanklichen Aussage auch sein mag, im klanglichen Erscheinungsbild gilt sie als durchaus europäisch, bewußt Assoziationen an viele Traditionen erweckend.

Viel Raum und Freiheit gewährt der Komponist nicht nur dem Hörer, sondern auch dem Interpreten im Hervorkehren einzelner melodiebildender Töne oder in Nuancierungen des Rhythmus. Dahinter steht Ottes Traum von der ungeteilten Wahrnehmung, der Traum von der Einheit von Komponist, Interpret und Publikum. Die Wassermannmusik für Harfe (1984-1985), der Siebengesang für Klavier, drei Sängerinnen und drei Bläser (1985) oder philharmonie für großes Orchester und drei Chöre (1983-1985) untermauerten diesen Weg des Medienkünstlers, der seine Arbeit als »täglich neue Beschreibung dieses unsagbaren Gefühls für das Leben, in dem wir nun mal sind« definiert. [...]3



1 Tom Johnson, Zeitungsbericht in der Village Voice, New York City, 14.12.1982,

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Ingo Ahmels

2 Gekürzte Fassung eines Textes von Hans Otte, geschrieben für das Programmbuch des Radio-Bremen-Festivals »pro musica nova 1996«

3 Leicht geänderte und gekürzte Fassung eines Munzinger-Archiv-Lexikonartikels von 1991